Zum 100. Geburtstag
Ein Dirigent für Gläubige
Ein Artikel aus der
Wiener Zeitung
von Erwin Baumgartner
Es war im Jahr 1993: Meine
damalige Lebensgefährtin, leidenschaftliche Oberösterreicherin, ist
restlos begeistert: Sergiu Celibidache, Hohepriester des
Oberösterreichers Anton Bruckner, dirigiert in St. Florian
(Oberösterreich selbstverständlich) dessen f-Moll-Messe. Da nicht
dabei zu sein, hieße Vorarlberger sein. Oder, noch schlimmer,
Wiener. Also werden die Karten besorgt, und es fragt sich nur noch
eines, nämlich, ob man nach dem Ereignis nach Wien zurückfahren oder
in ihrem Elternhaus in der Gegend von Wels übernachten soll. "Wie
lange dauert denn die f-Moll-Messe", fragt sie, die dieses Werk noch
nie gehört hat. "Na, so knapp über eine Stunde", sage ich, mich an
die Aufnahme Eugen Jochums erinnernd. "Also fahren wir wieder nach
Wien, da brauche ich meine Mutter nicht in Aufregung versetzen",
sagt sie.
Wir betreten die Stiftskirche von St. Florian. Sie ist gerammelt voll. In
den Gesichtern der Anwesenden spiegelt sich Erwartung und Erhebung.
Die Weihestimmung ist so mit Händen greifbar, dass sie jeden Moment
ins Lächerliche umkippen kann. Dann tritt Sergiu Celibidache ans
Pult, ganz weiser Meister. Er zelebriert die Messe. 1 Stunde 20
Minuten dirigiert er an dem Werk, die endlosen Kunstpausen nicht
mitgerechnet.
Begnadeter Selbstinszenierer
Nachher: Meine
Lebensgefährtin hält mich für ahnungslos. 20 Minuten länger als ich
angegeben hatte - und das bei einem einstündigen Werk? Unmöglich.
Bei der Abfahrt gibt’s Stau, und als wir endlich wieder in Wien
sind, habe ich zum mindestens vierzehnten Mal gehört, dass es doch
wesentlich besser gewesen wäre, in ihrem Elternhaus zu übernachten,
was ja auch ganz einfach gewesen wäre, hätte ich mich nicht
aufgespielt und eine völlig falsche Aufführungsdauer genannt. Die
Stimmung ist im Keller, bis ich am übernächsten Tag Jochums Aufnahme
zum Beweis mitbringe.
Am 11. Juli 1912 jährt sich Sergiu Celibidaches Geburtstag zum 100. Mal.
Um den rumänischen Dirigenten mit deutscher Staatsbürgerschaft ist
es seit seinem Tod am 14. August 1996 in La Neuville-sur-Essonne bei
Paris zweifellos ruhiger geworden. Doch er hat nach wie vor eine
Gemeinde hinter sich, die weniger eine von Fans ist als eine von
Gläubigen. Kaum ein anderer Dirigent hat es wie er verstanden, sich
selbst zu inszenieren - und das nicht durch bernsteinische
Luftakrobatik oder karajanisches Posieren, sondern durch
Verweigerung. Die war zwar inkonsequent und bis zu einem gewissen
Grad verlogen. Aber sie wirkte.
Und dann war da ja auch noch Celibidaches Kollegenschelte - die ging von
Mund zu Mund, so infantil sie auch sein mochte. Wenn schon nicht
durch seine Interpretationen, so grub sich Celibidache durch seine
Meinung im Gedächtnis ein: Karl Böhm sei "ein Kartoffelsack", Arturo
Toscanini "eine reine Notenfabrik" und Claudio Abbado "ein völlig
unbegabter Mensch". Der deutsche Dirigent Carlos Kleiber repliziert
darauf höchst amüsant in einem offenen Brief im "Spiegel", verkennt
dabei allerdings, dass er mit seiner geringen Selbstdisziplin,
seinem kläglich eingeschrumpften Repertoire und seinen
hochstilisierten Marotten eine ähnlich seltsame Erscheinung ist, die
ebenfalls primär durch eine Gemeinde Gläubiger getragen wird.
Zorniger Buddhist
Doch zurück zu Celibidache: "Kartoffelsack" Böhm, "Notenfabrik"
Toscanini, "unbegabter" Abbado - so spricht einer, der als seinen
wichtigsten geistigen Einfluss den Buddhismus nennt. Vielleicht muss
es auch zornige Buddhisten geben. Denn der Zorn ist die
Haupttriebfeder für Celibidache. Er wurzelt in einem Ereignis, das
der Dirigent nicht verwinden kann: Herbert von Karajan steht als
Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auf jenem Posten, den
Celibidache für sich reklamiert.
Der gebürtige Rumäne aus griechischer Familie studiert in Berlin
Philosophie, Mathematik, Komposition und Dirigieren. 1945 verhängen
die amerikanischen Besatzungsbehörden über den Chefdirigenten der
Berliner Philharmoniker ein Berufsverbot: Wilhelm Furtwängler war
ihrer Auffassung zufolge den Nationalsozialisten zu nahe gestanden.
Die Leitung des Orchesters übernimmt der gebürtige Russe Leo
Borchard - doch als sein Auto am 23. August 1945 bei der Einfahrt in
den amerikanischen Sektor Berlins nicht anhält, eröffnet ein
US-Soldat vorschriftsgemäß das Feuer und erschießt den Musiker. Zu
seinem Nachfolger wird der bis dahin nur in allerengsten
Expertenkreisen bekannte Celibidache erkoren. Ihm ist völlig klar,
dass die Amerikaner das Dirigierverbot für Furtwängler nicht lange
aufrechterhalten können, immerhin gilt er als bedeutendster Dirigent
des deutschsprachigen Raums, als einer der bedeutendsten der
Gegenwart. In Fachkreisen weiß man außerdem, dass Furtwängler sich
mit den Nationalsozialisten nur arrangiert, ihnen jedoch in Fragen
der Musik auch Kontra gegeben hat. Es wäre ein Ding der
Unmöglichkeit, ihn auf Dauer als untragbaren Nazi-Dirigenten
abzustempeln. Aber Celibidache hofft auf die Zeit nach Furtwängler.
So stürzt er sich mit Leidenschaft in die Arbeit mit dem Orchester
und sichert ihm das hohe Niveau.
Als Furtwängler nach seinem Freispruch 1947 ans Pult der Berliner
Philharmoniker zurückkehrt, glaubt Celibidache, er müsse lediglich
ein paar Jahre warten, um ans Pult jenes Orchesters, das er als das
seine betrachtet, zurückzukehren. 1954 stirbt Furtwängler - doch es
schlägt nicht Celibidaches Stunde, sondern die Herbert von Karajans.
Hierin also wurzelt der Zorn Celibidaches, der sein künftiges Handeln
bestimmt. Er stilisiert sich zum Gegen-Karajan. Bevorzugt Karajan
ein opulentes Klangbild, malt Celibidache in wohl abgestuften, aber
stumpfen Farben, setzt Karajan auf überzogen pathetische
Steigerungsbögen, fällt bei Celibidache die weiträumige Steigerung
zugunsten eines nahezu meditativen Stillstands weg. Und vor allem:
Setzt Karajan auf Schallplatte und später CD, so verweigert sich
Celibidache beidem. Musik sei keine Konserve, die man festhalten
könne, sie lebe im Augenblick der Entstehung, philosophiert er -
aber er ist hier, wie in so vielem, inkonsequent. Aufgezeichnet
werden viele seiner Konzerte nämlich schon, nur kommt kein
kommerzieller Tonträger auf den Markt. Vielleicht amüsiert
Celibidache der Gedanke, dass seine Gemeinde für Raubpressungen in
inferiorer technischer Qualität weit überhöhte Preise zahlt. Was
hingegen völlig legal auf den Markt kommt, sind Videos von
Celibidache-Auftritten. Wenn man den Meister auch sehen kann, dann
fallen eben doch alle Bedenken von wegen Musikkonserve weg.
Steter Effektverweigerer
Was die Celibidache-Gläubigen
überzeugt, sind unter anderem die zeitlupenhaften Tempi: Musik als
Meditation. Celibidache reklamiert für sich, er lasse die Musik
sprechen, er drücke nicht seine eigenen Gedanken aus, sondern den
nackten Willen des Komponisten - und ignoriert mit Virtuosität
Metronomzahlen und Tempovorschriften. Er verweigert sich dem Effekt
(und konsequenterweise dem effektlastigsten Genre, der Oper) und
will nicht wahrhaben, dass Effekt eben auch zur Musik gehört.
Mitunter scheint es, als wolle Celibidache im Bestreben, jede als
äußerlich empfindbare Wirkung zu bannen, die Werke demontieren, sie
in unbedeutende Einzelteile zerlegen.
Von 1972 bis 1977 übernimmt Celibidache die Leitung des
Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart, von 1979 bis zu seinem Tod ist
er Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker. Um seine
Orchester jedes Mal neu auf seine Wiedergaben einzuschwören,
benötigt er unzählige Proben. Wenn ein Musiker nicht spurt, wird er
verbal niedergemacht. Celibidache mag Toscanini verachten, im
beleidigenden Umgang mit Musikern steht er ihm nicht nach.
Was Celibidache hingegen geschickt kolportieren lässt, ist, dass er viel
Probenzeit für philosophische Exkurse verwendet, in denen er die
Musiker mit buddhistischen Lehren vertraut macht, wie er sie beim
indischen Guru Sathya Sai Baba, seinem spirituellen Lehrmeister,
findet. Das verleiht ihm bei seinen Gläubigen den Nimbus eines
Weisen der Musik. Und sie folgen ihm bis heute auf Wegen, die für
Außenstehende schlicht und einfach Unfug sind und Unfug bleiben.
Damals, bei dem Konzert in St. Florian, ist meine Lebensgefährtin zur
Celibidache-Gläubigen geworden. Der Trennungsgrund war indessen ein
anderer.