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Orpheus



Sergiu Celibidache

 

I. Cord schreibt in der Zeitschrift "Orpheus" Nr. 8/1980


"Zur Person"


Sein Name ging erstmals durch die Weltpresse, als er 1946 Chef-Dirigent der Berliner Philharmoniker wurde. Bis 1952 hatte er dieses Amt, einen der bedeutendsten Dirigentenposten der Welt, inne. Dann machte der jüngere dem älteren Wilhelm Furtwängler Platz, der nun wieder den Berliner Philharmonikern künstlerisch vorstand.

Sergiu Celibidache ist deutscher Dirigent rumänischer Herkunft. Geboren wurde er am 28. Juni 1912 in der rumänischen Stadt Roman. Nach einem anfänglichen Studium der Mathematik und Philosophie wandte er sich ganz der Musik zu. Von 1939 an studierte er Komposition und Dirigieren in Berlin bei Kurt Thomas, Gmeindl und Fr. Stein. An der Universität hörte er die musikwissenschaftlichen Vorlesungen von Schering und Schünemann.

Von 1952 ab war Sergiu Celibidache zunächst ausschließlich als Gastdirigent tätig, vor allem in Mittel- und Südamerika, aber auch in Nordamerika und Europa. 1963 nahm er die Leitung des schwedischen Rundfunk-Symphonie-Orchesters an, 1972 die Leitung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart. 1975 war er auch ständiger Gastdirigent des Orchestre National der ORTF. 1979 erfolgte die Berufung Sergiu Celibidaches zum Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker und Generalmusikdirektor von München.

Die Geltung Celibidaches als einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit besteht - unangefochten und unanfechtbar. Auch sein Ruf als Lehrer ist international. Dirigierkurse an der Accademia musicale Chigiana in Siena, an der Universität in Mainz und in München sind hier unter anderem aufzuführen.

Als Komponist trat Celibidache mit vier Symphonien, einem Klavierkonzert und zahlreichen weiteren Werken hervor, darunter zuletzt mit "Der Taschengarten", uraufgeführt 1979 in Stuttgart. Die Einspielung dieses Werkes mit dem Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks unter der Leitung des Komponisten liegt seit Juni 1980 als Schallplattenveröffentlichung vor. Damit existiert seit 1948 erstmals wieder ein Tonträger mit Sergiu Celibidache als Dirigent.


"Zur Sache“


Wer im Bielefelder Katalog oder gar im Großen deutschen Schallplattenkatalog oder auch im amerikanischen Schwann - Katalog nach Schallplattenaufnahmen unter Leitung von Sergiu Celibidache sucht, wird arg enttäuscht. Da sind nämlich nur die Decca - Aufnahme von 1948 mit Mozarts kleiner g-moll-Sinfonie KV 183 und Tschaikowskys Nussknacker - Suite (Decca – Import ECM 836 TIS) und als 2. LP die Decca - Aufnahme von 1948/49 mit Tschaikowskys Fünfter Sinfonie (Decca 6.41909 AJ) aufgeführt. Beide nicht stereophon, beide nicht in HiFi-Qualität, beide mit starkem Rauschen und geringer dynamischer Bandbreite, beide Langspielplatten eben in der mangelhaften Qualität, die damals Norm war.

Die Ursache dafür, dass Celibidache sonst nicht auf Tonträgern vertreten ist, liegt darin, dass der Maestro sich nach diesen beiden Einspielungen strikt weigerte, seine Kunst auf Schallplatten zu präsentieren. Die tiefere Ursache dafür liegt vor allem darin, dass Tonträger - im üblichen "analogen" Verfahren aufgenommen - der dynamischen Skala Celibidaches technisch nicht zu entsprechen vermögen. Vor allem die Pianissimi und Crescendi und Decrescendi zwischen Piano und Pianissimo werden bei den bisherigen ("analogen") Tonbandaufnahmen mit Rücksicht auf das Grundrauschen in den Mezzopiano - Bereich transportiert, damit der Abstand zum Grundrauschen gewahrt bleibt. Da das Fortissimo aber nicht lauter als mit 103 Prozent der DIN - Vorschrift technisch verwendbar ist, ergibt sich eine zusammengestauchte Dynamik, die der Dirigent Celibidache als höchstverantwortlicher Musiker nicht akzeptieren kann. Das Problem führte bei Sergiu Celibidache zur einzig logischen Lösung: keine Schallplattenaufnahmen!

Die einzige Ausnahme zu dieser seit 1948 für Celibidache bestehenden Regel ist die vorliegende Aufnahme seiner eigenen Komposition "Der Taschengarten“. Es ist aber nicht die Eitelkeit seinem eigenen Werk gegenüber, die Celibidache diese Ausnahme machen ließ, sondern es ist der brennende Wunsch des Dirigenten und Komponisten, den Kindern der Welt zu helfen, der ihn zu der Schallplatten -Veröffentlichung veranlasste. Der Reinerlös der Schallplattenaufnahme fließt nämlich dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) zu. Dirigent, Orchester und Süddeutscher Rundfunk verzichten zugunsten der UNICEF auf Lizenzen und Honorare.

Wenn man die Presseberichte der letzten 10 Jahre über Sergiu Celibidache verfolgt, in denen die ausgeprägten Ansichten und Einsichten Celibidaches - verstanden oder missverstanden - zum Aus- druck kommen, so mag man den Eindruck gewinnen, Eigenwilligkeit und Urteilshärte seien die dominanten Eigenschaften des großen Maestro.

Hört man hingegen die Urteile der Musiker, die unter Celibidaches Leitung probten und spielten, so kommt man zu einer ganz anderen Beurteilung: Sergiu Celibidache, das ist der Dirigent, der die Musik mehr liebt als die Gelegenheit zu dirigentischer Pose, der die Werke mehr liebt als den Starruhm der Taktstock-Giganten. Er ist auch der Mann, der die Musiker mehr liebt als sich selbst, wenn sie ihm alles geben, was er verlangt und was seine Interpretation fordert, und den die Musiker mehr lieben als die respektablen Dirigentenstars bekannten Ranges und Namens, wenn sie spüren, wie Celibidache ihnen aus der Tiefe der Musik heraus eine neue, die dem Werk adäquate Dimension der klanglichen Gestaltung entreißt.

Bei den Aufnahmen zu Celibidaches "Der Taschengarten" wurde noch eins deutlich: neben der Liebe zur Musik und der moralischen Verantwortung ihr gegenüber ist Celibidache von einer Liebe zum Kind, zu allen Kindern, zum Kindsein erleuchtet, die tiefster seelischer Grund seiner Humanität, seiner Musikalität, seiner Philosophie ist.

Natürlich würde es allen Musikliebhabern gefallen, wenn sie weitere Interpretationen Celibidaches auf Schallplatten erwerben und ihr Klangempfinden an seinen Gestaltungen orientieren könnten. Vielleicht bietet da die erst jetzt praktikabel werdende "digitale" Aufnahmetechnik eine Möglichkeit, die konzessionslose Qualität der Celibidacheschen Klangrealität auf Tonträger zu bannen. Bruckner, Brahms, Mahler, Tschaikowsky, Strawinsky, Debussy, Ravel, Richard Strauss in der Gestaltung Celibidaches auf Tonträgern - das wäre ein Wunschtraum der riesigen Hörergemeinde des Maestro in der ganzen Welt. Und das in der neuen Digitaltechnik, durchsichtig und dynamisch unverzerrt vom leisesten Pianissimo bis zum äußersten Fortissimo - das würde den Klangsinn der Schallplattensammler umerziehen, das wäre, was Sergiu Celibidache seinen Mitmenschen zu vermachen hat. Ein großes Erbe, das auf sein Testament wartet. Ein Erbe, das die Musikfreunde der Welt heute und morgen von dem gereiften und nach wie vor vom Ruhm unbestechlichen Musiker Sergiu Celibidache erbitten.