Ein Wiegenlied des Todes
Sergiu Celibidache dirigiert Bruckner und Fauré
... Faurés Requiem für
Sopran, Bariton, Chor, Orchester und Orgel ist in Deutschland nicht
allzu häufig zu hören, es geht ihm der Ruf der schönen Blässe, der
Süßlichkeit voraus, und gegen die kämpferisch-infernalen,
dantesk-zerrissenen Requiem-Partituren von Berlioz und Verdi, erst
recht gegen das Brahms-Requiem hatte es hierzulande nie große
Chancen. Dagegen wäre zu halten, dass Faurés Werk eben aus einer
anderen musikalischen Tradition (derjenigen Gounods) herkommt...
In völliger Eintracht mit dieser versöhnlichen, über die sinnliche
Schönheit erfahrbaren Konzeption ließ Sergiu Celibidache die sieben
Teile des Werkes singen und musizieren. Und er hielt seine
Philharmoniker in so zarten Farben, als wolle er Faurés ursprünglich
viel kleinere Orchestrierung, ohne Violinen und Holzbläser, wieder
herstellen. Die Entstehungsgeschichte des Requiems ist ja recht
diffus, ... das Sopransolo des „Pie Jesu" war für eine Kinderstimme
gedacht, und der Fauré-Biograph J.-Michel Nectoux hält denn auch
besonders bei dem „In Paradisum" die Mitwirkung eines Kinderchores
für notwendig. Aber mit dem von Josef Schmidhuber sorgfältig
einstudierten großen Philharmonischen Chor (dem sich Mitglieder des
Münchner Bach-Chores hin zugesellten) erzielte Celibidache doch
genau jene „mysteriöse Sanftheit, manchmal Lieblichkeit" (Nectoux),
die dem Werk zugehören.
Vor allem behielt diese Aufführung in der mit Nachhall und
luxurierender Klangvergrößerung gesegneten Lukaskirche jederzeit
musikalische Spannung, auch in dynamisch abgesenkten, im Tempo
zurückgenommenen Abschnitten — so wie stets bei Celibidaches
konzentriertem Musizieren. Da stimmte die Disposition der Teile
bezüglich des Ganzen, da wurden die melodischen Verläufe durch wie
organisch wachsendes An- und Abschwellen der Linien ineinander
verzahnt, die kurzen majestätischen Augen blicke ... souverän
gesteuert angepeilt, nicht als plötzlich hereinbrechende, sondern
durch geatmete Steigerung erreichte Höhepunkte ...
Dass das Klangtableau von Chor und Orchester, dass die
Vielstimmigkeit in feinste Farbvaleurs und dynamische Schattierungen
ausbalanciert war, versteht sich bei Celibidaches bekannter
Klangakribie von selbst; die beiden Vokalsolisten waren optimal
ausgewählt: (die eingesprungene) Margaret Price, mit ihrem kostbar
schimmernden Sopran, und Philippe Huttenlocher, der Zürcher „Orfeo"
Ponnelles, ein Bariton von großartiger Stimm- und Ausdruckskultur.
Zum Bruckner- ,,Te Deum" nur soviel: die Aufführung besaß Ebenmaß,
Ruhe und Größe, auch breit ausschwingendes Pathos. Nicht protziger
Klang- und Glaubensbombast war allerdings ihr Merkmal, sondern eine
unerbittliche Rigorosität in der musikalischen Durchzeichnung, auch
der Schlussfuge, in der subtilen Textdeklamation durch Chor und
Solisten (Margaret Price, Christel Borchers, Claes H. Ahnsjö, Karl
Helm)...
Vom Nutzen der Nähe
Sergiu Celibidache dirigiert zwei Konzerte in der Philharmonie
Seit zehn Jahren ist Sergiu Celibidache Chefdirigent der Münchner
Philharmoniker und Generalmusikdirektor der Stadt München. Zwei
Jubiläumskonzerte also. Die „Philharmonischen Blätter", die den
Programmheften des Orchesters regelmäßig beigelegt sind, nehmen dies
zum An lass, in zwei Ausgaben (Juni/Juli) eine Art Resümee zu
ziehen, und zwar auf die ein zig authentische Weise:
Orchestermusiker, die nicht nur aus der Nähe zur Musik und zu „Celi"
dazu in der Lage, sondern auch sprachbegabt sind, wurden gebeten,
ihre Beobachtungen, Erfahrungen, Reflexionen in bezog auf
Celibidache und seine spezifische Weise des Musizierens mitzuteilen.
Fazit: Die zehn Jahre sind für das Orchester künstlerisch eine
Epoche.
Die Arbeit mit Celibidache brachte für die meisten Musiker des
Orchesters oben drein eine einschneidende menschliche Begegnung: in
Konflikten und Triumphen. Sie sind überzeugt von seinen Grundsätzen,
dass Musik nicht nur der Schönheit, sondern der Wahrheit dient; dass
ihr Wesen in dem musikalischen Entstehungsprozess, in der spontanen
Erlebnisfähigkeit der Musiker und der Zuhörer, in der Deutlichkeit
verankert ist. Und dass Nähe zur Musik und diejenige zu den Musikern
unteilbar ist: „Er lässt Nähe zu und glaubt als einer der ganz
wenigen Dirigenten, die ich kennengelernt habe, an das Licht in
jedem Menschen, an seine Wachstumsmöglichkeiten" (Jörg Eggebrecht).
Celibidaches „Hingabefähigkeit", seine „radikale Position gegenüber
der Verdinglichung der Musik" wird heute vom Orchester anerkannt,
seine Solidarität mit den Musikern, seine intensive Präsenz - in
zahllosen Konzerten, Proben, auf Reisen, in Diskussionen - als
wesentlich empfunden.
Zwei Konzerte - die letzten in München vor Ende der Saison, vor der
Reise nach Rouen in dieser Woche - brachten noch einmal die
Bestätigung solcher Qualitäten und Einsichten, vor allem herrliche
musikalische Ergebnisse. Bruckners vierte Symphonie erklang, wie
schon bei den letzten Malen, in weitgespannten, unendlich ruhig
ausgesungenen Linien, großräumig disponiert, geatmet, in ihrer
Vielschichtigkeit mit unübertrefflicher Klarheit, in ihrer
aufgetürmten Gewalt ohne Gewaltsamkeit dargeboten. Brahms' vierte,
gekoppelt mit Beethovens erster Symphonie, wurde - wie ebenfalls
schon früher gehört - in ihren motivischen Verästelungen völlig
fassbar,- die Brahmssche Sprödigkeit war zart aufgelichtet oder
leidenschaftlich zusammengefasst, das Orchester fand zu einer
geistigen Einheit mit den Impulsen des Dirigenten, wie man sie
selten hört.
Zu den falschen Legenden um Celibidache zählt sein angeblich
schmales Repertoire. Auch hier bieten die Philharmonischen Blätter
erstaunliche Aufklärung: Rund 130 symphonische Werke der Klassik,
Romantik und Moderne, nicht gerechnet Ouvertüren usw., hat
Celibidache in den zehn Jahren dirigiert. Und mit der ersten
Symphonie sind nun auch Beethovens Neun komplett aufgeführt. Fast
überflüssig zu sagen, dass die Wiedergabe die Tugenden des Künstlers
und seines Orchesters vollendet widerspiegelte.
Auf das sorgfältigste erschien die Partitur in ihrer noch von Haydn
inspirierten Durchsichtigkeit, ihrem (noch lockeren) Witz
erarbeitet. Zügige Tempi, fließende Eleganz, entspannte
Natürlichkeit des Musizierens: wie in der Kammermusik. Hervorragend
die Balance der Klanggruppen, die Phrasierung des thematischen
Materials, und immer gegenwärtig - die geistvolle Sublimierung der
tönenden Materie, das Con spirito. Die Philharmoniker erreichten
eine fast schwerelose instrumentale Brillanz. Aufmerksamkeit,
Kompetenz, Nähe, eine durchaus nicht selbst verständliche Qualität
des Zuhörens, In - die -Musik-Hineinhörens (auf Seiten der Musiker,
des Publikums) - Celibidaches Konzerte mit den Münchner
Philharmonikern gleichen immer einverständlicher musikalischen
Familienfesten. Das Orchester und er wurden lange gefeiert.
Wolfgang Schreiber
(„Süddeutsche Zeitung", München)