Fono Forum Christoph Vratz
Ewig vorläufig
Die Magier des Augenblicks war ihm heilig, deshalb hat er
Schallplatten - Produktionen abgelehnt. Doch Sergiu Celibidache war
nicht nur Dirigent, sondern auch Musik-) Philosoph. Zum 100.
Geburtstag hat Christoph Vratz nach Spuren seines Vermächtnisses
gesucht.
Das Wesen der Musik ist ihr Verschwinden, und dieses Verschwinden geschieht strukturiert." Ein programmatischer Satz für jemanden, dem die Aufzeichnung von Klang, seine technische Konservierung und jederzeitige Wiederholbarkeit ein Dorn im Künstlerherz war. Sergiu Celibidache: Musiker, Philosoph, Pädagoge, Phänomen.
Schwierig ist er zu fassen, auch im Jahr seines 100. Geburtstages und mehr als anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod. Die Klischees sind geblieben: Celi, der Unberechenbare, der vor Krächen nie zurückschrak, der Probenfanatiker, der Anhänger buddhistischer Lehren, der Entwickler einer eigenen, mehr sperrigen denn eingängigen Philosophie-Richtung - ein Faszinosum et tremendum.
Für diskographische Vergleiche taugt der in Rumänien geborene, früh nach Deutschland gekommene und dort als Genie ebenso verehrte wie als bizarrer Querkopf ungeliebte Celibidache fast immer. Meister der Langsamkeit und der zelebrierten Tempodehnung. Er, der zumindest in den späten Jahren nicht selten üppige Netto-Spielzeiten erzielte, bietet sich immer wieder an als unmittelbarer Kontrast zu vielen seiner Kollegen, insbesondere im direkten Duell zu den Vertretern der so genannten historischen Aufführungspraxis, die sich mittlerweile weit bis ins Feld der Romantik vorwagen. Ob bei Bachs h-Moll-Messe, den Beethoven-Sinfonien, ob bei Mozarts Requiem oder Tschaikowskys letzten Sinfonien - Celibidache schlägt sie meist nach Länge.
So weit, so pauschal, so richtig, so falsch. Bekanntermaßen ist Tempo zwar eines der wichtigsten und vielleicht das insgesamt ohrenfälligste Kriterium bei Interpretationsvergleichen, doch sagt es nichts über Qualität, nichts über die Eigenheiten und das Bewusstsein von Klang. Auf diesem Gebiet hat sich Celibidache im Laufe seines Lebens immer mehr zum Verfechter einer Lehre des idealen Klangs entwickelt. Ihm ging es, wie er in seiner „Phänomenologie der Musik" beschreibt, um das „Objektivieren des Klanges und [...] das Studium der vielfältigen Weise, wie der Klang eindeutig auf das menschliche Bewusst sein einwirkt". Musik ist für ihn „nicht etwas, das sich in einer Definition durch Denksymbole und sprachliche Konventionen erfassen lässt". Musik, so Celibidache, entspricht „keiner wahrnehmbaren Daseinsform. Etwas kann unter bestimmten einmaligen Voraussetzungen Musik werden. Und dieses ,Etwas' ist der Klang. Also: Klang ist nicht Musik; Klang kann Musik werden."
Was das praktisch bedeutet? Celi hatte darauf in seinen Münchner Jahren immer nur eine Antwort parat: „Kommen Sie zu unseren Proben, Sie werden alles hören!" In der Tat, Celibidache führte offene Proben ein, jeder konnte sich einen Eindruck verschaffen. Für das Orchester war das keineswegs einfach: Der geschützte Raum war auf einmal offen, und wer Celis nicht gerade dem Diplomatendienst abgelauschten Ansprache Duktus kannte, musste fürchten, öffentlich an die Wand genagelt zu werden. Doch Celibidache ging es weniger um Eitelkeiten, sondern um die Sache und um Wahrhaftigkeit.
Einige dieser Proben sind inzwischen auf CD veröffentlicht, darunter die zu Bruckners Neunter (in München, im September 1995) sowie zum vierten Satz von Bruckners Fünfter (Stuttgart 1981). Da wird nichts dem Zufall über lassen, richtige Artikulation ist ihm heilig. „Das ist das Gesicht des Tempos." Celibidache forscht nach der optimalen Balance: „Ist da genug Perspektive auch für die zweite Stimme?" - „Es ist nicht Sauerstoff für alle und in jeder Lage. Je höher sie kommen, desto weniger wird es. So ist es auch bei den Geigen." Gera de die Klangdichte bei den Streichern war ihm stets heilig. Christian Gansch, Produzent und in den achtziger Jahren unter Celibidache Stimmführer bei Münchens Philharmonikern, erklärte einmal, wie wichtig Celi das langsame Ziehen des Bogens gewesen sei: „Der einzelne Spieler muss also gegen seine musikantische Natur quasi in Zeitlupe über die Saiten streichen, ohne sich von der Musik mitreißen zu lassen." Fast ein Paradoxon. Für jeden Solisten wäre es ein Beschleuniger fürs Karriere-Aus. Nicht so im Orchester. „Was hier als rein technisches Hilfsmittel zur Klangerzeugung erscheint, beinhaltet bei Celibidache letztlich eine eminent wichtige philosophische Dimension: Virtuosität als reiner Selbstzweck oder der [...] oberflächliche Bewegungsdrang eines Musikers verhindern, dass große Musik und Tiefe entstehen können." Anders gesagt: Durch diese Art, Töne zu produzieren - eine fast „statische, introvertierte, unpersönliche" Art -, entsteht jene Klangdichte, die für Celibidaches Aufführungen so charakteristisch war und deren Intensität, wie Gansch es nennt, „alle Barrieren zwischen Musik und Zuhörer auflöst". Der Dirigent als Hypnotiseur.
Damit wären wir wieder bei Celi, dem Phänomenologen, der die Wirkungen von Klang hinterfragt: „Klang entsteht und vergeht. Die Affekte, die den Klang begleiten oder die im Affektleben des Menschen vom Klang erweckt werden, gehorchen demselben Gesetz. Und das ist das, was das Wesen der Musik aus macht. Also, wo findet Musik statt? Nicht auf der Bühne, nicht auf dem Instrument, sondern im Bewusstsein.
Den Geheimnissen Celibidaches auf die Spur zu kommen hilft ein Beitrag, den der Dirigent zum Scherzo von Beethovens neunter Sinfonie für das Programmheft der Münchner Philharmoniker im März 1989 verfasst hat. Dort geht es um die Temporelationen der A-B-A-Teile, die mit „Molto vivace" bzw. Presto" überschrieben und von Beethoven mit Metronomangaben versehen worden sind. Bissig, ironisch, gegen Musikwissenschaft und Kollegen wetternd, weist er nach, dass der Mittelabschnitt (B) tatsächlich schneller ist als die Rahmenteile (A), doch in praxi geschähe - auf liebe, alte Gewohnheiten vertrauend - das Gegenteil: „Statt den Kontrast durch schnellere Tempobewegung zur gezielten Auswirkung kommen zu lassen, wie es der Komponist ein für alle mal bestimmt hat, hat man eine allgemein gültige, leicht fassbare Karikatur des Mittelsatzes hineingenäht, die viel langsamer geht und auf diese Weise charakter- und beziehungslos zu dem anfänglichen A-Teil steht, den sie in der Sphäre des äußerst schnellen Presto ergänzen sollte."
„Verstehende sind schwer zu finden" - so übertitelte Celibidache 1962 einen eigenen Text über den Buddhismus im Feuilleton der FAZ. Das gilt bei ihm nicht nur in religiös-philosophischer Hinsicht - „die tiefe allumfassende Einsicht in die Totalität aller Lebensgesetze" -, sondern auch für die Musik. Und auch wieder nicht: „Man versteht Musik nicht - man erlebt sie", gestand er in einem Interview. Dennoch, er wollte auch begreifen. Celibidache hat jeden Schritt seines Berufes, jedes Wesen seiner Berufung zu er forschen versucht, wider alle Moden, wider alle Vereinnahmungen durch den Betrieb. Dabei heraus kommen sind Erkenntnisse, die ein ganzes Buch füllen und sich wie Bonmots lesen, obwohl sie mehr sind als bloße Kalendersprüche. Über allem jedoch thront für ihn der Wille des Komponisten: „Ich habe keine Absichten, außer der einen, mich so zu entpersonalisieren, dass ich für eine halbe Stunde in die Haut von Mozart schlüpfen kann."
Celibidache hat um die Oper zeitlebens einen großen Bogen geschlagen, er hat sie allenfalls, in Form von Vor- und Zwischenspielen, in den Konzertsaal geholt. Er, dessen Traum es war, als junger Mann protestantischer Priester in einer norwegischen Kirche zu sein, hat sich stets für die „reinste„ , „unmittelbarste“ Form der Musik starkgemacht, das Konzert, ohne die Hülle von Kostümen und Inszenierungen. Denn im Konzert „entstehen Sachen, oder sie entstehen nicht. Wenn sie entstehen, sind Sie frei". Da ist er wieder, der Ort, an dem für Celibidache sich alles Musikalische vollzieht: das menschliche Bewusstsein. „Wenn der Komponist anfängt, auf dem weißen Bogen Papier Musik zu empfinden, was bewegt sich denn da? Nur sein Bewusst sein! Sein Bewusstsein ist aber in unlösbarer Beziehung zu seiner Affektwelt", gibt er in seiner „Phänomenologie" zu bedenken.
Spiegeln sich Celibidaches Erkenntnisse auch in den Mitschnitten, die sich in unbeabsichtigt reicher Zahl erhalten haben? Konkretes ist schwer zu liefern, denn Celis Kriterien für erfülltes Musizieren lassen sich nicht nach Zahlen, in Tabellen und Statistiken nachweisen. Er hat zugegeben, dass ihn jede Aufführung zu höchster Konzentration treibe, dass sie „Unruhe, Nervosität" bei ihm auslöse. Hört man seinen frühen, in Köln aufgezeichneten Strawinsky - „ein genialer Dilettant" —, dann merkt man diese Nervosität in jedem Takt. Doch Celibidaches Musizierstile sind universeller. Seine Deutung von Schumanns vierter Sinfonie etwa klingt stellenweise erstaunlich luftig, nie über die Maßen gedehnt. Dieses um der Spannung willen weite Dehnen zeigt er jedoch im „Tuba mirum" des Verdi-Requiems, ein grenzwertiger Zugang. Wie er bei Tschaikowsky Schlichtheit und Farbigkeit der Instrumentation heraus zustellen vermag, ist hingegen grandios. Wie er Haydn und Mozart mit leichtem Bogen spielen lässt, mag so gar nicht zum Bild vom Dauergrübler Celibidache passen.
Wohl kaum einen Komponisten hat er so verehrt wie Bruckner, kaum hat er je heftiger über jene Kollegen geschimpft, die Bruckner seiner Auffassung nach nicht verstanden haben. Zugegeben, Celibidache hat die Türen zu Bruckners Welt sehr vorsichtig geöffnet, aber nie mit dem Anflug andächtiger Weihe. Die war ihm vergällt. Wie er das Finale der Fünften mit seinem fugenhaften Aufbau und den choralartigen Gipfeln versteht, wie er das „Sehr feierlich und sehr langsam" in der Siebten begreift, wie er die Achte - „die Krone der Symphonik" -als klingende Kathedrale erbaut, aber den Weihrauch draußen lässt, das ist große Kunst. Wenn er bremst, wundert man sich gelegentlich - wo steht das? Wenn er die großen Crescendi formt, verfügt er über genug Atem, ohne dass ihm die Bögen zerfallen. Celibidaches Ästhetik ist unorthodox, sie lebt von den Vibrationen inmitten stoisch scheinender Ruhe. Sie spiegelt eine eigene, ungemütliche und auch heute immer noch neugierig machende Art, Musik als zusammenhängendes Ganzes zu betrachten. Sergiu Celibidache blieb stets auf der Suche nach ewiger Vorläufigkeit.
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Juli 2012