Radio Sinfonie Orchester Stuttgart
Es führt ein Wunder hinauf bis zur Verklärung
Sergiu
Celibidache und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
gastierten in der Berliner Philharmonie
Klaus Geitel Die Welt 1977
Es
war entschieden, noch bevor es begann. Als Sergiu
Celibidache das Podium der Philharmonie betrat,
schlug ihm und dem Radio Sinfonieorchester Stuttgart
ein Begrüßungsbeifall entgegen, der gesättigt war
mit Dankbarkeit.
Celibidaches
Leistung ist in Berlin unvergessen. Sie ist populär
geblieben bis auf den heutigen Tag. Über ein Vierteljahrhundert
hinweg hat das Musik - Berlin diesem Rumänen die
Treue gehalten, als habe er die Stadt nie verlassen.
Höchstens Menuhin noch bringt man in der Philharmonie
vergleichbare Zuneigung entgegen.
Nichts
anderes auf dem Programm als ein einziges Werk:
Bruckners 8. Sinfonie in der Zweitfassung. Daß Celibidache
auf sie und nicht auf die Urfassung zurückgriff,
ist durchaus einleuchtend. Das Scherzo rückt auf
den zwei ten Platz (wie am Vorabend auch unter Karajan
in Mahlers Sechster), den dritten Satz nimmt das
Adagio ein — wie das Andante bei Mahler. Die heimliche
Entsprechung der beiden aufeinander folgenden Konzerte
wuchs ins Unheimliche.
Es
muß gesagt sein trotz des Schlußjubels, der von
allen Seiten auf die lieben Stuttgarter Gäste niederkartätschte:
Das Radio-Sinfonieorchester ist auch unter Celibidache
ein tüchtiges Orchester zweiter Ordnung geblieben.
Zunächst glaubt man, noch immer das Spiel der Philharmoniker
vom Vorabend .im Ohr, einer akustischen Fata Morgana
aufzusitzen. Erst langsam gewöhnt man
sich daran, auch
das ernst hafte und
aufrichtige,
immer etwas biedere Musizieren der Gäste für schätzenswert
zu halten. Die Stuttgarter
spielen in allen Gruppen vortrefflich.
Sie
bieten gewissermaßen
musikalische Hausmannskost.
Sie ist
schmackhaft, würzig,
eingängig. Das ist sehr viel.
Wer eines Tages die Biographie Celibidaches schreibt — und daß sich bald jemand dafür findet
(am besten
er
selbst),
ist zu hoffen
—, wird plausibel
zu machen
haben, welchen psychischen Bruch es verursachte, daß sich die Berliner Philharmoniker einst gegen
ihn wendeten.
Celibidache ist wahrscheinlich
der einzige bedeutende
Interpret der
Nachkriegszeit, dem nicht Gerechtigkeit
widerfuhr. Dabei ist er ein Mann, den die Welt
braucht. Und den noch: Er versagte sich ihr
allzu
oft. Er bevorzugte Orchester, die nicht zu den allerersten
zählten.
Er
versuchte,
vom
Rand her
das Musikleben der Welt zu reorganisieren durch
Widerstand. Er ist damit gescheitert. Tragik ist
um ihn, ebenso wie die nicht zu erschütternde Liebe
und Bewunderung, die seine Kunst wie immer hervorruft.
Im
Grunde war es ganz gleichgültig, was Celibidache
dirigieren würde. Er hatte Bruckners 8. Sinfonie
gewählt, und in den beiden letzten Sätzen gelang
es ihm auch. Jene schlichten Wunder zu entfesseln,
die, sich höher und höher der Verklärung entgegensteigernd,
sei ne Hochsinnigkeit belegen. Celibidache versagt
es sich, so etwas wie Glamour über die Musik zu
breiten: einen Schönklang, der in sich selbst Genüge
finden könnte. Celibidache dirigiert Bruckner auf
jene aufrecht serene Art, die man beinahe als protestantisch
bezeichnen könnte. Und das Orchester folgt ihm nach
besten Kräften dabei.
Delikatesse
oder Klangkultur muß man dabei etwas vermissen.
Aber voller Größe ist die Wiedergabe durchaus. Sie
gewinnt sich vielleicht gerade durch ihre partielle
Robustheit eine spröde Ernsthaftigkeit, die dem
Brucknerschen Himmel vielleicht viel näher ist als
alles höllische Raffinement.