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Deutschlandfunk Kultur



Dirigieren wie im Rausch


Zum 100. Geburtstag von Sergiu Celibidache
Helge Grünewald ( ehem. Dramaturg der Berliner Philharmoniker )
im Gespräch mit Andreas Müller( Deutschlandfunk Kultur)

 

Sieben Jahre lang dirigierte Sergiu Celibidache die Berliner Philharmoniker. Sein Verhältnis zu dem Orchester war jedoch schwierig: "Er stellte Forderungen, die nicht zu akzeptieren waren, er probte wahnsinnig", sagt dessen heutiger Dramaturg Helge Grünewald. Das hätten sich viele nicht gefallen lassen.


Andreas Müller:
Sergiu Celibidache dirigiert die Berliner Philharmoniker - 1953 war das. Im Studio begrüße ich jetzt Helge Grünewald, Dramaturg der Berliner Philharmoniker. Hallo!

Helge Grünewald: Guten Morgen!

Müller: 1953, da war er noch schneller, der Celibidache. Dennoch, kann man hier schon das ausmachen, festmachen, was den späteren Dirigenten so auszeichnete?

Grünewald: Mindestens für eine bestimmte Zeit. Also es ist natürlich schön, dass Sie so eine Aufnahme ausgesucht haben - Celibidache mit ziemlichem Tempo, ich weiß nicht, ob er die Symphonie später je wieder so schnell dirigiert hat. Er fing an als ein feuriger Hitzkopf, man muss sich vorstellen, er kam '45 zu den Philharmonikern, er war 33 Jahre alt, unerfahren, kam direkt von der Hochschule, hatte Dirigieren, auch Gesang und andere Dinge studiert, und er hat sich dann mit dem Orchester zurechtgerauft, was auch nicht einfach war, wie man aus Zeugnissen weiß.

Und diese Zeit, und ich denke, auch noch ein paar Jahre, fast Jahrzehnte danach, war er doch sehr, sehr temperamentvoll. Da gibt es auch Tondokumente später aus Stuttgart, wo man merkt, wie er probt, sehr bewegt, sehr heftig auch die Leute manchmal harsch angeht, und eben ein kräftiges Tempo vorlegt. Dazu muss man sehen - sagen, wir können das ja im Funk nicht sehen -, er war auch eine stattliche Erscheinung, ein junger, feurig aussehender Mann, der die Frauen offenbar auch sehr beeindruckt hat, aber überhaupt auch das Publikum, der die Leute mitgerissen hat. Und dann haben wir später den Schnitt zum späten Celibidache, wo man dann einen Menschen sieht, der auch aufgrund von körperlichen Problemen langsam, bedächtig geht, und der sehr, sehr bedächtige Tempi anschlägt.

 Müller: Nun haben wir einen Mitschnitt gehört. Klar, dabei war Celibidache natürlich berüchtigt für seinen Hass auf Tonträger, es gibt mehrere berühmte Zitate, das eine finde ich sehr schön: Musik auf CD, das sei wie Sex mit dem Foto von Brigitte Bardot, hat er mal gesagt. Er bezeichnete Schallplatten als tönende Pfannkuchen - was hat ihn denn so an Tonträgern gestört?

Grünewald: Also man muss ja so sagen, was wir von ihm haben, sind meistens keine Studio-Aufnahmen - auch was wir eben hatten -, sondern das sind Konzertmitschnitte oder vielleicht auch Generalproben im Funk. Ich muss auch den kleinen Schlenker machen, Ihr Haus hat ja eine rühmliche Rolle dabei gespielt, dass zweitklassige Mitschnitte, die bislang auf dem Markt waren, dann durch eine ordentliche Edition gut gemastert, mit einem guten Booklet versehen auch erschienen sind, also auch eine Box mit Celibidache. Ich denke mal, er hat etwas gehabt, und nur sehr viel deutlicher ausgedrückt, was sehr, sehr viele Dirigenten haben. Man könnte auch viele Namen nennen, dass sie im Grunde genommen Interpreten sind, die am Abend - oder es kann ja auch tagsüber sein - zu großer Form auflaufen, die ein Publikum und einen Konzertsaal brauchen, also einen Gegenüber, der da ist, der auch reagiert, aber diese Schwingungen - das würde Celibidache sicher gefallen -, die spürt man natürlich nicht.

Also man könnte ein bisschen altmodisch sagen, die ganze Aura des Konzertes, der Musikdarbietung ging ihm beim Bannen auf die Konserve verloren. Und ich glaube auch, er war ja sehr, sehr pingelig in Proben, aber ich glaube, er wäre nicht glücklich gewesen, wenn er im Studio jetzt zusammengeschnipselt hätte. Das hätte er auch nicht gemacht. Er hätte vermutlich große Bögen - sagen wir, bei einer Symphonie - Einsatz gemacht. Und deswegen war er ein Feind dessen und hat erst sehr, sehr zögernd später dann zugelassen - zum einen, als er in München war -, dass die Konzerte mal dokumentiert wurden auf Band, Aber sie sind erst nach seinem Tod veröffentlicht worden. Ein bisschen anders ist es gewesen mit einigen Musikaufnahmen, die er gemacht hat, die schon als DVD oder als VHS erschienen, aber er war ein Mann des Momentes und sagte: Was ich jetzt hier mache, das erlebt ihr jetzt, und das ist im Grunde genommen auch unwiederbringlich, und es bringt wenig, das später auf eine Konserve zu bannen.

Ich persönlich muss sagen, im Grunde genommen holt ihn das auch ein, denn wenn ich mir manche seiner Mitschnitte, die freigegeben worden und erschienen sind aus München, anhöre, bin ich nicht sonderlich berührt. Im Konzert habe ich manche dieser Dinge gehört, und dachte: Oh! Also ich weiß nicht, als ob einen da sozusagen dieser Fluch einhole.

Müller: Den Münchner Philharmonikern ist übrigens durch diese Verweigerung ein hübsches Sümmchen an Einnahmen entgangen.

Grünewald: Das stimmt.

Müller: Damals wurde ja noch viel Geld verdient, auch mit klassischer Musik, also mit Tonträgern. Rundfunkmitschnitte hat er zulassen müssen letztlich, da konnte er sich nicht wehren. Es gibt auch verhältnismäßig viel Filmmaterial, verhältnismäßig viel, letztlich auch nicht so ganz konsequent, oder?

Grünewald: Ja, das ist ja meist auch dann erst nach seinem Tod veröffentlicht worden. Es gibt ein ganz frühes Material, da hat er aber auch mitgewirkt. Kürzlich ist auf arte ein Film über ihn ausgestrahlt worden, da ist eine Aufführung von der Egmont-Ouvertüre von Beethoven in den Trümmern der alten Philharmonie - es gibt ein bisschen Zweifel, ob man die Trümmer ein bisschen nachgebaut hat im Studio, oder ob es wirklich die Trümmer waren, das ist egal -, da hat er selbst die Kameraeinstellung kontrolliert, und das ist eine wahnsinnig aufregende Interpretation: schnell, feurig, gut im Bild, und ich glaube, er wusste ein bisschen auch - denn er hat ja auch zugelassen, dass man ihn ablichtet, also in Fotos, in Bildbänden, auf Plakaten und so, dem hat er sich nicht verweigert -, ich glaube, er hat natürlich auch diesen Anteil gehabt, dass er ein bisschen was Narzisstisches hatte oder sich freute, wenn man ihn nun als den Dirigenten auch darstellt.

Müller: Celibidaches Philosophie, im Zen-Buddhismus fußend, machte ihn für viele so etwas wie zu einem Guru. Nicht wenige Kritiker fanden seine Weisheiten eher simpel, und manche taten ihn - wie ich es gestern in der "Welt" gelesen habe - als Egomanen - ich zitiere hier mal - als "Egomanen, Zampano und Überwältigungs-Scharlatan" ab. Also das geht da sehr weit auseinander. Wie sehen Sie das?

Grünewald: Ja, das ist ein bisschen schwierig. Ich habe neulich einen Ausschnitt aus einem Interview gesehen, und da musste ich auch ein bisschen schmunzeln, da sagte ein Musikjournalist, er sei bei Celibidache sozusagen in die Schule gegangen, und Celibidache habe eine Philosophie gehabt, eben diese Phänomenologie der Musik - das darf man, glaube ich, nicht so ganz philosophisch nehmen, wie der Begriff eigentlich nahelegt -, diese Philosophie der Musik, die könne man nicht so ohne Weiteres erzählen, sondern dafür brauche man Jahre. Das ist natürlich ein Blödsinn, also wenn das nicht Scharlatanerie ist, dann kann man die mindestens beschreiben oder umschreiben.

Also ich glaube, es ist vielleicht ein bisschen simpel, aber ich meine, im Zen-Buddhismus gibt es auch ganz simple und einfache Dinge, und da fällt mir gerade ein, ein anderer, dessen 100. Geburtstag wir feiern, nämlich John Cage. Der hatte auch sehr, sehr schlichte Weisheiten, aber die waren sehr, sehr zutreffend, auch aufs Alltagsleben. Der hat auch gesagt, nehmt die Musik, wie sie ist, Musik ist Musik. Bei Celibidache war das, glaube ich, auch ein bisschen was mysteriöses, und es war gebunden an ihn als Persönlichkeit. Wenn Sie oder ich diese Weisheiten verkündet hätten, hätte man das wohl nicht so ernst genommen. Also von daher muss man das ein bisschen vorsehen. Was, denke ich, mit dazu gehört, ist, die Musik entsteht im Moment der Interpretation, sie wird aufgeführt und sie vergeht. Und da sind wir ja auch wieder bei dieser Frage, konservieren oder nicht konservieren. Und dann ist sie weg, und dann muss sie wieder neu entstehen. Und an diesem Prozess, ich denke, da hat er sich als der entscheidende Geburtshelfer und auch Hermeneut, also als Ausdeuter, verstanden.

Müller: Und wir hören jetzt wieder in eine Konserve, nämlich eine ganz besondere, da reden wir gleich drüber: Anton Bruckners Symphonie Nummer sieben, wir hören einen Ausschnitt aus dem ersten Satz, und das ist Sergiu Celibidache mit den Berliner Philharmonikern 1992. (…)

Heute wäre er 100 Jahre alt geworden, Sergiu Celibidache, und er dirigiert hier die Berliner Philharmoniker im Jahre 1992, das war nach einer fast 40-jährigen Pause, denn er war wütend, enttäuscht, frustriert. 1954 haben sie ihn nicht genommen, sondern den Anderen, auf den er dann auch eine ganz große Wut hatte. Dieses Konzert - es kam damals auf Bitten des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zustande -, es war ein großes Ereignis. Celibidache verbuchte es für sich trotzdem nachträglich als Enttäuschung. Helge Grünewald von den Berliner Philharmonikern ist bei uns zu Gast. Sie waren damals dabei, wie haben Sie dieses Ereignis erlebt?

Grünewald: Also erst mal herrschte natürlich eine ungeheure Spannung im Saal. Man muss sagen, es ist schade, dass Celibidache wiederkehrte, wie Sie sagten, nach 38 Jahren, und aber in den falschen Saal kam. Die Philharmonie war damals geschlossen wegen der Reparaturarbeiten an der Decke, man ging also ins Konzerthaus, damals noch Schauspielhaus, was keine so berauschende Akustik hat, das war schade. Der Ort - natürlich schön, und es war eine große Spannung, einerseits bei den wenigen Musikern, die es noch gab, die ihn kannten von damals, die ihn auch wollten, auch die, die vielleicht unter ihm gelitten hatten, und bei den jungen, die ihn nur vom Hörensagen kannten und jetzt erleben konnten.

Er war sichtlich bewegt - ich war bei der ersten Probe dabei -, er war sichtlich bewegt, hat gesagt, wir waren doch damals ein fabelhaftes Orchester, wir konnten - und das aus Celibidaches Mund - wir konnten doch ohne Proben Konzerte machen, was ich damals absolut nicht für möglich hielt. Also das ist ja ein Ausweis, dass die Philharmoniker doch eine gewaltige Qualität gehabt haben müssen. Er war stolz, er hat sie immer verfolgt, er hat gesagt, wie sie die Probleme gelöst haben, wie sie gegen Mittelmäßigkeit angekämpft haben, und dann hat er geprobt, und ich hatte den Eindruck in der ersten Probe, das ist fast auf der Kippe, weil der innerhalb einer Stunde vielleicht zehn oder zwölf Takte Musik gemacht hat. Er hat immer wieder überwältigt von den Erinnerungen von damals - also da haben Sie gemerkt, sehr emotional, und was Sie auch sagten, die andere Seite, hinterher in Japan, ein paar Monate später, muss er das Ereignis dann mies machen.

Das war typisch Celibidache, der ja auch in Interviews über alle Dirigenten hergezogen ist, man fragt sich, warum hatte er das nötig? Er war ein guter Dirigent, er hatte genuin was ganz Eigenes anzubieten, warum musste er sozusagen die anderen der Zunft so behandeln? Und dann ...

Müller: Warum vor allen Dingen den einen, nicht?

Grünewald: Ja, Karajan!

Müller: Also den wir jetzt auch nennen, Karajan, den er ja - hat er irgendwie gehasst.

Grünewald: Ja, aber auch mit Furtwängler hat er sich am Ende entzweit. Und man muss der Fairness halber sagen, es ist nicht so, dass er nur ging, weil er da nicht genommen wurde als neuer Chef, sondern er ging auch, weil er kompromisslos war. Er stellte Forderungen, die nicht zu akzeptieren waren, er probte wahnsinnig - also das konnten die Musiker gerade als ein sehr selbstbewusstes Orchester, das konnten sie nicht mit sich machen lassen, und so war das eine beidseitige Geschichte, ganz abgesehen davon, dass sie mit Celibidache als Medienorchester nicht glücklich geworden wären, denn die Medien haben sie ja auch - also die Schallplatten - haben sie ja auch weltweit berühmt gemacht.

Müller: Haben wir eben, als die Musik lief, uns ein bisschen drüber unterhalten. Das hätten die nicht mitgemacht - keine Aufnahmen, nein, nein, nein, auf gar keinen Fall. Das hat sie dann ja auch natürlich groß gemacht, keine Frage. Das ist das große Medienorchester, keine Frage.

Grünewald: Genau.

Müller: Ja, er ließ wenig gelten neben sich, er hat sich mit allen angelegt, man kann streiten, darüber debattieren, warum er das gemacht hat, er hat aber immer viel unterrichtet, er wollte auch weitergeben.

Grünewald: Ja, er hatte, glaube ich, auch dieses ... ein ambivalentes Wesen, er war einerseits ein bisschen zwanghaft auch, oder stärker zwanghaft, wie er Dinge haben wollte, auch im Zelebrieren seiner langsamen Tempi, und dann muss er sehr freigiebig gewesen sein: Er hat Leuten Geld gegeben, denen es nicht gut ging, Studenten, er hat unterrichtet, hat dafür kein Geld genommen, also er hatte auch so eine ganz soziale Ader. Und nicht zuletzt, er kam zu dem Benefizkonzert des Bundespräsidenten, und das Geld ging dann damals an rumänische Kinderheime, denen es besonders schlecht ging. Also es waren diese beiden Seiten. Aber wie bei vielen Menschen, nicht nur bei Künstlern - es gibt eben Ambivalenz.

Müller: Die großen alten Pult-Diktatoren, die Karajans und Celibidaches, die gibt es heute nicht mehr - nicht mehr wirklich, man müsste sehr lange suchen. Es kann sie wohl auch nicht mehr geben, weil die gesellschaftlichen Strukturen sich doch sehr geändert haben, und die heutige Musikergeneration ist wahrscheinlich auch ganz anders geprägt. Ich denke mal, so ein Sir Simon Rattle, der ja fast schon auch ein volkstümlicher Typ ist, das, was dann aber auch immer sehr gut funktioniert. Was bleibt denn dann von so einer Jahrhundertfigur wie Celibidache? Ist da noch was vorhanden?

Grünewald: Also es bleibt einmal natürlich für die Berliner Philharmonika - und das ist ja nicht nur lokal -, es bleibt dieser prägende Einfluss in den Jahren, in der kurzen Zeit. Er hat über 400 Konzerte dirigiert, er hat ein breites Repertoire erschlossen, Stücke aufführen lassen, die Musiker vorher noch nie gehört haben. Es bleibt auch die Münchner Zeit, in der er seinen Traum, seine Art, Musik zu machen, sicherlich auch unter Kompromissen der Musiker - da sind bestimmt auch nicht alle immer ganz glücklich gewesen, wenn Triolen dann so zerdehnt wurden, dass sie kaum noch als solche zu erkennen waren -, das ist da, und natürlich eine imposante Erscheinung, das ist ganz klar.

Er hatte ja, bevor er noch mal zu den Philharmonikern kam, war er hier regelmäßig Gast der Festwochen, mit den Münchnern, und das waren große Ereignisse. Also da hatte er das Publikum, das ihm zujubelte, er hatte immer in Berlin den großen Triumph, und den hatte er allerdings auch, als er dann die Philharmoniker dirigierte - ich denke, das bleibt von ihm: Eine ganz besondere und auch eine ganz besonders eigenwillige Art, Musik zu inszenieren, die wir, also ich würde sagen, am ehesten vielleicht noch mal, aber in einer ganz anderen Weise, zum Beispiel bei Carlos Kleiber dann wiedergefunden haben, auch ein ungewöhnlicher und schwieriger Charakter, aber im Konzert hinreißend.

Müller: Was ich noch sagen wollte - denn was auch bleibt, sind natürlich immer wieder auch Aufnahmen. Den Bruckner, den wir eben gehört haben, den gibt es in ein paar Tagen auf DVD, im Herbst dann auch als CD, und das sei Helge Grünewald gestattet, wir werden jetzt abschließend die Konkurrenz hören. Celibidache dirigiert die Münchner Philharmonika, Claude Debussy, ein Ausschnitt aus "la Mère". Vielen Dank, Helge Grünewald, Dramaturg der Berliner Philharmoniker, zum 100. Geburtstag von Sergiu Celibidache.

 

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