Kurt
Honolka über Bruckner
mit dem Südfunk Sinfonie Orchester Stuttgart
An Schallplatten kann man ihn
nicht erkennen
Symphonischer Festtag
Jubiläumskonzert des Südfunk-Sinfonieorchesters unter Sergiu
Celibidache
Großer Abend im Beethovensaal: Nicht allein des Jubiläumsanlasses
wegen — das Südfunk-Sinfonieorchester feierte sein 25jähriges
Bestehen —, sondern weil die minutenlangen Ovationen, das
enthusiasmierte rhythmische Beifallsklatschen wirklich einer
außerordentlichen Leistung galt. Wie das Orchester unter seinem
Gastdirigenten Sergiu Celibidache Hindemith und Bruckner spielte,
das bezeugte, dass es zur deutschen Spitzenklasse zählt, wenn es so
gefordert und entfaltet wird. Und dieser Dirigent vermag es.
Bei einem „runden Jubiläum" werden Erinnerungen wach. Die Alten, die
heute noch an den Pulten sitzen, möchten an die Jahre zurückdenken,
deren Nöte die triste Chiffre „RM-Zeit" pauschaliert, an Proben in
akustisch unmöglichen Wirtschaftssälen, an den arbeits- und
erfolgreichen Aufstieg zu einem Klangkörper, den auch das Ausland
auf seinen Reisetourneen schätzen lernte. Hans Müller-Kray, der vor
zwei Jahren gestorbene Chefdirigent, leitete das Orchester über
zwanzig Jahre hindurch, er formierte es, erzog es, führte es in die
Hauptaufgabe eines Funkorchesters ein, nämlich Pionier
zeitgenössischer Musik zu sein. Seiner muss an diesem Tag in
Dankbarkeit gedacht werden, auch wenn in der Erinnerung des
Schreibers dieser Zeilen, der dem Orchester als Rezensent fast eben
solange kritischer Partner war, vor allem große Abende mit
Gastdirigenten auftauchen: Furtwängler mit Beethovens Fünfter,
Schuricht mit Bruckners Achter, Knappertsbusch, Böhm und der
unvergessene Fricsay, die Großmeister der Moderne, Hindemith und
Strawinsky, eigene Werke auf führend.
Angesichts des so offenbar glücklichen, sich gegenseitig steigernden
Zusammenwirkens des Südfunkorchesters mit Celibidache könnte sich
etwas Wehmut in die Erinnerung mischen: er war ja der „Wunschchef"
des Orchesters, als nach dem plötzlichen Tode Müller-Krays ein
Nachfolger gesucht wurde — leider konnten sie zusammen nicht kommen,
damals. Vielleicht aber doch in Zukunft, wenn auch nur zu häufigerer
gemeinsamer Arbeit (mehr ist ja von dirigierender Hochprominenz
heute nicht zu er warten).
Sergiu Celibidache, der fünfzigjährige, jetzt noch in Stockholm
wirkende rumänische Weltbürger, ist ein Unikum unter den
internationalen Taktstock-Stars: es gibt keine Schallplatte von ihm,
weil er den falschen Schein der Makellosigkeit verabscheut, weil er
lebendiges Musizieren höher stellt als manipulierte Perfektion (und
sich das auch einen Batzen Platten-Tantiemen kosten lässt). Er ist
kein „Magier" und kein „Zar", der den Spielern diktatorisch seinen
Willen aufzwingt. Er praktiziert Mitbestimmung, indem er seine
Spieler zu eigenen Initiativen begeistert: sie sollen selber Freude
an ihrem Können, an ihrem Teamwork haben. Das teilt sich dem Hörer
begeisternd mit.
Man meinte, den Geigenchor des Südfunkorchesters, der früher etwas
kalt und starr wirkte, noch niemals Bruckners Themenmelodien so
singen gehört zu haben — und wie sich die Bläsergruppen „kollegial"
aufeinander abgestimmt die Bälle zuspielten! Zu Celibidaches
Bruckner-Auffassung wäre einiges Kritische zu bemerken'; er neigt
dazu, die Hauptthemen — vor allem das Imperiale im Kopfsatz der 7.
Symphonie und das im Adagio — überbreit zu exponieren, kann dann
aber so zelebrierendes Tempo nicht durchhalten und muss zu
Beschleunigungen derselben Themen greifen, die den ruhevollen
Grundstrom brucknerischer Symphonik unterbrechen, nervös machen.
(Nur am Rande: der Beckenschlag im Adagio, der einzige in der ganzen
Symphonie, ist ein unauthentischer Effekt, Bruckner hat ihn selber
klar dementiert!) In der Durchsichtigkeit, in der blühenden
Klangschönheit ist jedoch die Siebente, wie sie das Orchester unter
Celibidache spielte, kaum zu übertreffen. Und um nichts geringer zu
stellen, ja eher höher, weil hier stilistische Bedenken weg fallen,
ist die Wiedergabe von Hindemiths Mathis-Symphonie. Ich kenne zwei
Auf nahmen, unter Hindemith selber und unter Karajan. Mit beiden
könnte sich diese getrost messen — wenn Celibidache Schall platten
machte.
Celibidache zelebrierte glanzvoll Bruckners 4. Symphonie
Das war die längste Vierte von Bruckner, die ich jemals hörte. Aber
mitnichten die langweiligste, ganz im Gegenteil: das Südfunk
Sinfonieorchester musizierte unter Sergiu Celibidache so überaus
glanzvoll, dass man es, in dieser Form und unter diesen
Dirigentenhänden, getrost zur deutschen Elite zählen kann.
Erstaunlich, welchen Schwankungen heute noch die Bruckner-Rezeption
ausgesetzt ist. Kürzlich hörten wir im selben Beethoven-Saal die
fünfte Symphonie, die sakralste, von Maazel in ungeduldigem Eiltempo
entsakralisiert - jetzt schien Celibidache durch ausladende
Feierlichkeit demonstrieren zu wollen, dass auch eine so weltliche,
„romantische" Symphonie wie die vierte doch im letzten Grund ein
Gottesdienst in Tönen ist. Robert Haas, der Herausgeber der
Endfassung Bruckners (die auch Celibidache, selbstverständlich,
wählte), empfahl eine Wiedergabedauer von 60 Minuten; das ist sicher
zu wenig - aber die 80 Minuten, die Celibidache brauchte, sind
ebenso sicher zu viel. Dagegen war ja Knappertsbusch geradezu ein
symphonischer Sprinter!
Betroffen von solcher ausbordenden Maestoso-Breite sind vor allem
die Ecksätze, deren vorgeschriebenes Tempo nun einmal „Bewegt nicht
zu schnell" heißt. Besonders im Finale droht da die innere Spannung
abzureißen. Droht: aber Celibidache disponiert aus so großer
symphonischer Perspektive, immer das Formganze überschauend, dass
man dennoch gebannt bleibt. Zumal der ins Gigantische geweitete
Zeitrahmen Details in äußerster Plastik her vortreten lässt.
Alles wird wunderbar durchhörbar, und das Südfunk Sinfonieorchester
kann in leuchtenden Bruckner-Farben und subtilsten Nuancen der
Agogik schwelgen. Am eindrucksvollsten, wie schlank im Klang, ohne,
im geringsten grobschlächtig aufzutrumpfen, die gesamte Blechgruppe
musizierte. Celibidache ließ, eine schöne kameradschaftliche Geste,
alle Instrumentalsolisten einzeln am jubelnden Beifall teilnehmen;
Johannes Ritzkowski, der erste Hornist, blies an diesem Abend so,
wie es Bruckner wohl nur im Traume hören konnte.
Die Achte beim Südfunkorchester unter Celibidache
Ein Bruckner-Fest
Mit der Karajan-Interpretation der Berliner Philharmoniker zu
vergleichen
Jede Aufführung von Anton Bruckners achter Symphonie hebt sich auch
heute noch aus jedwedem Konzertalltag: eine Kraftprobe für die
Ausübenden wie für die Aufnahmefähigkeit der Hörer - und, wenn sie
bestanden wird,
ein tiefes Erlebnis. Das wurde in der Tat die Wiedergabe durch das
Südfunk-Sinfonieorchester unter Sergiu Celibidache. Außergewöhnliche
Ovationen quittierten eine außergewöhnliche Leistung.
Das Orchester hat heute ein Qualität er reicht (namentlich in der
für dieses Werk so vielbeschäftigten, wichtigen Blechgruppe), dass
sogar ein Vergleich mit der berühmten Karajan-Interpretation der
Berliner Philharmoniker statthaft ist. Das allein schon spricht für
die Stuttgarter. Wer hätte einen solchen Vergleich noch vor zehn
Jahren wagen dürfen! Seither haben die Streicher wesentlich mehr an
Glanz und Fülle hinzugewonnen; unter den Holzbläsern waren immer
schon Virtuosen, nicht immer aber blieben die Hornisten (hier
verstärkt durch vier Tuben) so wunderbar, fast unfehlbar in der
Intontation; die Des-Dur-Coda des Adagio erklang in jener
traumhaften Entrückung, die Bruckner mit dem inneren Ohr hören
mochte.
Am Höhenflug des Südfunk-Sinfonieorchesters ist Sergiu Celibidache
wesentlich beteiligt: trainierend, formend, begeisternd. Bruckner
ist seine große, späte Liebe. An scheinend eine coincidentia
oppositorum: der elegante, virtuose Weltmann und der ungehobelte
Klotz aus der oberösterreichischen Provinz. So schön, so raffiniert
wie etwa das verklärte Geigen-Cello-Duo im Adagio, vor der dritten
Wiederkehr des Hauptthemas, würde kein „geborener" Bruckner-Dirigent
Details ausfeilen. Man kann den sinnenfrohen, Bruckner auch zu schön
musizieren, den sakralen zu feierlich zelebrieren. ;
Dass das Adagio, diese Krone aller nachbeethovenischen langsamen
Sätze, die äußerste Verbreiterung durch Celibidache vertrug, ohne an
innerer Spannung zu verlieren, spricht für die Intensität, für den
großen Atem seiner Bruckner-Deutung. Aber wenn das Finale, formal
ohnehin empfindlich (wie alle Bruckner-Finales), fünf Minuten länger
dauert als selbst bei Karajan, der in der Achten ohnehin schon zu
extremer Langsamkeit neigt, dann stimmen einfach die Proportionen
nicht ganz, und aufrichtige Ehrfurcht - die sei Celibidache
respektvoll zugebilligt - stößt an Grenzen, wo sie ratlos wird.
Diese in vie lem so herrliche Wiedergabe der Achten wird nicht
Celibidaches letztes Wort zu Bruckner sein. Schon weil es im Ringen
um die Rezeption dieses rätselvollsten Symphonie-Genies des 19.
Jahrhunde kein letztes Wort geben kann.
Dr. Kurt Honolka, Musikschriftsteller und Kritiker, geboren 1913 in Leitmeritz (Böhmen). Studium an der Deutschen Universität Prag,
arbeitete anschließend als Journalist. 1949 bis 1963
Feuilletonleiter der «Stuttgarter Nachrichten». Danach dort und als
Korrespondent deutscher und ausländischer Zeitschriften und
Rundfunkanstalten Musik- und Theaterkritiker. Übersetzer und
Bearbeiter von Opern, auch Liedern und Chorwerken, namentlich von
Smetana, Janáček und Dvořák. Kurt Honolka
starb 1988.