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Atantisbuch der Dirigenten



Ein Dirigentenportrait über Sergiu Celibidache(1985)


Von Gerhard R. Koch


Wolfgang Stresemann, langjähriger Intendant des Berliner Philharmonischen Orchesters, schreibt in einer Geschichte des Orchesters 1882 bis 1982, anlässlich des Hundertjahr-Jubiläums, ausführlich über die prägenden Dirigenten von Bülow, Nikisch, Furtwängler und Karajan. Einem anderen aber, einem für die Philharmoniker-Entwicklung gewiss ebenfalls wichtigen Chefdirigenten, widmet Stresemann in der Festschrift gerade einen einzigen Satz: «Ende August 1945 übernahm mit dreiunddreißig Jahren der genialisch veranlagte Rumäne Sergiu Celibidache, der an der Berliner Hochschule für Musik studiert hatte, die Leitung und hat sich um Berlin und sein Spitzenorchester bis zur Rückkehr Furtwänglers große Verdienste erworben. » Gewiss, Celibidache ist in der Broschüre mit einem Photo in exzentrischer Pantomimenpose vertreten. Dennoch kommt man nicht umhin, eine Tendenz zu vermuten: Verdrängung.

Irgendetwas also muss an Celibidache nicht ganz geheuer sein - dass er im gegenwärtigen Musikbetrieb zum nicht geringen Teil immer wieder verdrängt, verketzert, ja regelrecht verteufelt wird. Eines fällt in diesem Zusammenhang immer wieder auf: Fast alle, die es innerhalb des Musikbetriebs, der ja zunehmend auch mit Musikindustrie und ihren entsprechenden Marktstrategien zu tun hat, als Manager, Musiker oder Kritiker zu den Parteigängern Herbert von Karajans gehören, lassen in ihren Äußerungen über Celibidache nicht selten ein Moment von Gereiztheit durchschimmern - einen Tonfall der Verärgerung und des Unmuts. Fast gewinnt man da den Ein druck, Celibidache müsse gleichsam abgewehrt werden, als purer Exzentriker, als schwarzes Schaf abgetan oder gar zum Pfahl im Fleische des Musiklebens dämonisiert werden. Allerdings hat er auch vierzig Jahre lang dazu bei getragen, dem Schlagwort vom enfant terrible fortwährend neue Nahrung zu geben.

Sergiu Celibidache wurde am 28. Juni 1912 in Roman (Rumänien) geboren. An der Universität Jassy studierte er Philosophie und Mathematik, wandte sich aber bald immer mehr der Musik zu - zunächst als Pianist einer Budapester Tanzschule. Das Musikstudium in Paris brachte ihm nach eigener Aus sage nicht allzu viel. Um so wichtiger wurden für ihn die Berliner Lehrjahre: bei Heinz Thiessen (Komposition) und Walter Gmeindl (Dirigieren). Weiterhin beschäftigte er sich mit Philosophie (weltanschaulich tendiert er übrigens zum Buddhismus) und Mathematik, promovierte als Musikwissenschaftler schließlich sogar mit einer Dissertation über die Kompositionstechnik von Josquin Desprez.

Schon beim jungen Celibidache also muss ein ganz eigentümliches Widerspiel zu beobachten gewesen sein: zwischen südöstlichem Musiziertemperament, Lust an der effektvollen, gewiss  auch eitlen Selbstdarstellung, am zirzensischen Schaugepränge - und dem Streben nach Vertiefung, fast weitabgewandtem Suchen nach Zusammenhängen, konstruktivem Hintergrund und geradezu metaphysischem Überbau. Dass ihn die deutsche und speziell die Berliner Musikkultur und -tradition tief geprägt haben, hat Celibidache mehrfach beteuert. Nach Kriegsende schlug Celibidaches große Stunde: Wilhelm Furtwängler durfte wegen seines Entnazifizierungsverfahrens die Leitung der Berliner Philharmoniker noch nicht wieder übernehmen. Die Interimswahl fiel auf Celibidache. Der Dreiunddreißigjährige wusste seine Chance zu nutzen, seine eminente Begabung, den nicht minder großen Ehrgeiz und die noch immer beeindruckende Orchestersubstanz zu koordinieren, Perfektion und klangsinnliche Suggestion in vorher unbekanntem Ausmaß zu steigern. Damals galt er in erster Linie als frenetischer «Pultübermensch», von dem es hieß: «Dieser Mensch ist außer sich. Er ist von einem Dämon besessen. Wir wittern, dass in ihm Kräfte wirken, die stärker sind als er selbst. Was wir vor uns sehen, ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Künstler in Augenblicken höchster Ekstase. » Dass er da wohl von manchem gar als eine Art Nachfahr seines noch berühmteren rumänischen Landsmannes, des Grafen Dracula, empfunden wurde, ließ sich mittels eines Films immerhin erahnen: Celibidache dirigierte da vor einer Berliner Trümmerlandschaft Beethovens «Egmont» - Ouvertüre: ein enormes Dokument exzessiver Theatralik des Dirigenten, der da, heftig dunkle lange Korkenzieherlocken schleudernd, wirkte wie einer der visionären Rabbis Marc Chagalls oder der ekstatischen Mystiker und Märtyrer El Grecos.

Celibidache wirkte, und selbst bei späteren Begegnungen konnte man dies immer noch ahnen, fast wie ein pantomimischer Pulttänzer. Wenn Komponisten wie Mauricio Kagel und Dieter Schnebel als «visible music» Stücke nur für Dirigenten konzipierten, Kagel auch einen entsprechenden Film («Nostalgie») gedreht hat, so mochte man manchmal meinen, der junge Celibidache habe ihnen als Modell gedient. Aber bei aller Lust an Show und Glamour, am torerohaften Bewegungsritual durfte und darf man nicht vergessen, dass dem Konzert zahlreiche langwierige und minuziöse Proben voran gingen, dass präzisestes Studium und Kalkül die Basis für die Spontaneitätsfassade im abendlichen Saal waren. Nichts liegt diesem Dirigenten ferner als das improvisatorisch Ungefähre, das Vertrauen auf Routine und den sich am Abend halt ergebenden (oder auch nicht) inspirierenden Höhenflug. Celibidache hat als radikaler Ästhetizist und Technokrat begonnen und ist es auch geblieben. Für das Berliner Publikum brachte er denn auch etwas Neues: eine vorher in dieser Art unbekannte Instinktsicherheit und Eleganz der Dirigiertechnik wie -gestik, bestechende orchestrale Perfektion und dynamische wie klangfarbliche Verfeinerung, aber auch Drastik. Celibidache sorgte auch dafür, dass zu dem traditionellen deutschen Repertoire der Klassiker und Romantiker Novitäten und exotische Raritäten kamen: Russisches, Französisches, Amerikanisches, Spanisches und Lateinamerikanisches. Als Furtwängler 1952 wieder die Leitung der Berliner Philharmoniker übernehmen konnte, war das Orchester wieder in optimaler Verfassung. Ja mehr noch Celibidache hatte es zum vielseitigen modernen Perfektionsinstrument trainiert, es also in eine Richtung entwickelt, die Karajan dann weiter verfolgen konnte.

Noch heute werden Legenden über die Untrüglichkeit von Celibidaches Gedächtnis kolportiert: Noch die unscheinbarsten Nebenstimmen selbst komplexester Partituren soll er in je dem Moment präsent gehabt haben. Und die Schärfe seines Gehörs soll ihn zu regelrechten Rekordleistungen befähigt haben. Nicht nur habe er die feinsten Tonhöhenschwebungen wahr genommen, sondern auch sein Richtungshören sei ganz außerordentlich entwickelt gewesen. Hätten etwa im tosendsten Fortissimo selbst des überdimensionalen Strauss-Orchesters dritter und vierter Hornist die Stimmen getauscht, wäre dies Celibidache nicht entgangen.

Dennoch: Als Furtwängler 1954 starb, da wurde als Nachfolger nicht Celibidache gewählt, sondern Karajan. Celibidache hat diesen Schlag bis heute nicht verwunden, und der Groll, ja die Galle, mit der er den gegenwärtigen Musikbetrieb  bedenkt, lässt sich  vermutlich nach wie vor auf diese elementare Enttäuschung zurückführen. Über die Gründe und vor allem Hintergründe dieser Entscheidung ist viel spekuliert worden. Eine Art Grauzone scheint dennoch bestanden zu haben. Und lange wurde noch, zumindest von Seiten der Anti-Karajanisten, gemunkelt, der wahrhaft genialische der bei den Dirigenten sei letztlich doch Celibidache gewesen. Aber er hat sich bei den Berliner Philharmonikern auch Feinde geschaffen. Als Attitüde des allmächtig - allwissenden und unfehlbaren Dompteurs, auch das sarkastisch selbstgefällige Ausspielen der eigenen intellektuellen und nicht zuletzt auch rhetorischen Überlegenheit hat wohl manche Wunden hinterlassen. Hinzu kam, dass Karajan der weitaus vielseitigere Dirigent war, nicht nur des größeren Konzert-, sondern auch des Opernrepertoires wegen.

Celibidache hingegen hat, eigenem Bekenntnis nach, nur viermal Oper dirigiert - und der genüsslich selbstquälerische Schauder, den er kokett simuliert, wenn er sich an diese Horror - Erfahrungen zurückerinnert, verrät einiges von dem Charaktermaskenwechselspiel zwischen Heiligem und Exzentrikclown, mit dem er es manchmal seinen Anhängern schwer und seinen Gegnern leicht macht. Denn er ist ein Mann der extremen Ansichten, die er zudem auch gerne mit leid- und lustvoller Überschärfe formuliert. Aber Wahres und Falsches, Sinnvolles und Abstruses sind in seinen Meinungen mitunter seltsam vermengt. Wenn er etwa das ganze Genre Oper in Bausch und Bogen ablehnt, dann ausschließlich aus akustischen Gründen: Die Entfernungen auf der Bühne, zwischen Bühne, Orchester und Dirigent seien zu groß; hinzu kämen noch die Bewegungen auf der Bühne und zusätzliche akustische Veränderungen durch wechselnde Bühnenaufbauten. Natürlich ist an all dem etwas Wahres. Aber andere, wahrlich nicht geringere Dirigenten haben sehr wohl gelernt, mit dem Provisorium und Kompromiss Oper zurechtzukommen - die als solche ja auch etwas von der Faszination des fluktuierenden Lebens selber hat. Aber genau diesem Moment von Unberechenbarkeit misstraut Celibidache. Ein anderer Grund für seine Abneigung gegen das Musiktheater dürfte im ersten Gebot zu finden sein: «Du sollst keine anderen Götter haben . . .» Die Vorstellung, sich auch nach Sängern, Regisseuren, Tänzern, Choreographen, Chordirektoren, Bühnenbildnern und Technikern richten zu müssen, ist ihm offenkundig ein Greuel. Dies mag auch erklären, warum Celibidache so extrem selten Solisten in seinen Konzerten auftreten lässt. Einzig den Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli akzeptiert er bewundernd als wahlverwandt-charismatischen Musiker mit unbedingtem Vollkommenheitsanspruch.

Dass Celibidache als Furtwängler-Nachfolger keine reale Chance hatte, wohl überhaupt für eines der allerersten Orchester nicht in Frage käme, liegt in erster Linie in seiner Medienabstinenz, vor allem der Weigerung, Schallplatten zu machen - wofür er ebenfalls wieder akustische Argumente ins Feld führt: Tempo und Klang seien jeweils für eine bestimmte Aufführung in einem bestimmten Saal einmalig und unübertragbar konzipiert und fixiert. Die elektroakustische Wiedergabe könne da nur sterilabsurde Verzerrungen bewirken. So triftig dies für sich genommen klingt: Widersprüche bleiben nicht aus.

Denn schon allein der leere Saal bei der Probe klingt völlig anders als vollbesetzt. Und in zweierlei Hinsicht wäre Celibidache sogar der prototypische Dirigent des Medienzeitalters gewesen. Sein ausgeprägtes Showmantum hätte gerade ihn zum TV-Star prädestiniert. Und so wie Celibidaches Sinn für Musik im Raum, die Choreographie der Schallquellen, eine Opernaufführung unter ihm (am Ende gar des «Parsifal») erregend narkotische Erfahrungen versprochen hätten, so wäre er auch der ideale Studiodirigent: Denn das akribische Austüfteln von Klängen und Linien, die orchestrale Alchemie der Farben und Beleuchtungen - bei weitestgehender Ausschaltung des Zu falls - liefen doch eigentlich auf die Studioästhetik hinaus. Und, ein weiterer Widerspruch: Ausgerechnet Celibidache hat jahrelang hauptsächlich mit Rundfunkorchestern (Stockholm, Stuttgart) gearbeitet.

Nach 1955 hat er Deutschland gemieden, ein unstetes Reiseleben geführt, viel in England, Frankreich, Italien und Spanien, dann wieder in Süd- und Mittelamerika, dann wieder in Skandinavien dirigiert.

Celibidache, den es nicht zu den großen Festivals zieht, der stattdessen lieber Dirigierkurse gibt, ist ein Mann der eigenwilligen Ideen. So meint er etwa, bei einem hervorragenden Orchester brauche man mehr Probenzeit als bei einem mittelmäßigen. Denn gute Musiker könnten mehr Klang- und Phrasierungsmöglichkeiten anbieten, die zu kombinieren und auszubalancieren dann eben auch mehr Arbeit und natürlich auch Befriedigung bedeuten würde. Sein interpretatorisches Ideal ist es, «den vertikalen Druck, den Ausdruck des Augenblicks, mit dem horizontalen Druck, dem Verhältnis zwischen den Werten, in einer einmaligen erlebten Form darzubringen».

Einzig Furtwängler habe dies erreicht. Im übrigen lässt er milde allenfalls noch zwei andere, bezeichnenderweise sehr extreme Dirigenten Gnade finden: Leopold Stokowski und Rafael Kubelik. All die anderen Prominenten (Toscanini, de Sabata, Böhm, Karajan, Solti, Bernstein, Boulez, Sawallisch) werden mit vernichtenden, ätzend sarkastischen Urteilen bedacht: Dumme, bösartige, schlicht gemeingefährliche Ignoranten seien sie alle. Zum Heile der Musik hätte man sie schleunigst aus dem Verkehr ziehen sollen. Für das Unheil steht für ihn vor allem die Schallplatte, die originäre Erfahrungen verhindert, an das Publikum, aber auch etwa an die jungen Dirigenten nur sinnentleerte Hülsen aus zweiter, dritter und vierter Hand liefert. Des halb klängen so viele Interpretationen auch so schlecht und überdies austauschbar uniformiert. Auch da hat er sicher in vielem recht.

Celibidache, dessen Repertoire eher schmal ist, hat sich legendären Ruf als Orchestererzieher erworben: In Berlin, Stockholm, Stuttgart und bei den Münchner Philharmonikern, deren Chefdirigent er 1979 wurde und die unter ihm denn auch eminente Fort schritte gemacht haben. Celibidache hat wohl die Fähigkeit, gerade leicht darniederliegende Orchester mit Zuckerbrot und Peitsche in relativ kurzer Zeit in Höchstform zu bringen. Es wird ihm allerdings auch nachgesagt, dass er, wenn er dieses jeweilig optimale Niveau erreicht, auch sein Repertoire annähernd erschöpft sei, er ein wenig die Lust verlöre - etwa auch an neuen Stücken tendiere er mehr und mehr dazu, über der klanglichen Feinstrukturierung die große Form zu vernachlässigen, «den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen». Der immer weiter getriebene sensualistische Klangfetischismus führe ihn manchmal dazu, seine Musiker eher so schön, ausdrucksvoll, virtuos und effektvoll spielen zu lassen, wie es ihnen individuell möglich sei - und weniger, wie es einem übergeordneten, aus der kompositorischen Idee abzuleitenden Tempo entspräche.

Das einst so erregende Widerspiel aus greller Exaltiertheit und immer sublimerer Statik scheint in den letzten Jahren zunehmend zum Stillstand zu kommen. Der einst so exhibitionistische Pulttänzer scheint zum Mystiker geworden zu sein, vielleicht aber auch nur müde. Aber immer noch haben Celibidache-Aufführungen in ihrem mittlerweile oft eigentümlich künstlich gedrosselt wirkenden Tempo, Klang und Gestus etwas seltsam Widerständiges. Der gedankenlosen Konvention, dem gängigen Mozart-, Beethoven-, Brahms-, Bruckner-, Tschaikowsky- und Strauss-Klischee wird man bei ihm kaum begegnen. Auch insofern bleibt er einer der großen Einzelgänger. Und deshalb sind Celibidache-Konzerte, zu deren zirzensischen Ritual stets das selbstgefällig inszenierte Applaus- und Einzellob - Defilee gehört, immer wieder doch spannend. Gewiss, die torerohaft - hüftkreiselnde Podiumspantomime, mit der er früher Ravels «Bolero» auch als dirigentisches Einmanntheater auskostete, ist reduziert; aber in seinen besten Momenten kann man in Celibidache-Konzerten betörende Erfahrungen von majestätischer Klangpracht und gleichsam nur farbig bewegter Klangluft machen, die verständlich werden lassen, worin die Größe dieses Dirigenten besteht, dessen Grenzen wohl auch in seinen eigenen Schwierigkeiten mit sich selbst liegen. Ende 1984, schwer erkrankt und mit Ungewisser Zukunft, zerstreitet sich Celibidache mit den Kulturoberen Münchens, und es kommt fast zum Bruch mit den Philharmonikern, die er zu einem der ersten internationalen Orchester gemacht hat.