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Dr. Klaus Lang im Interview...



Ein Gespräch mit Sergiu Celibidache


Das nachstehend vollständig wiedergegebene Gespräch mit Sergiu Celibidache führte der Orchesterreferent des SFB, Dr. Klaus Lang, am 29.11.1974 in Stuttgart und wurde im Dezember 1974 im SFB gesendet.

 

K. Lang: Sie haben, Herr Professor Celibidache, in Rumänien (Ihrer Heimat) und in Berlin Mathematik, Philosophie und Musikwissenschaft studiert. Sind diese Denkformen auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil Ihrer musikalischen Interpretation?


S. Celibidache:
Sicherlich nicht. Als ich damals das alles studierte, wußte ich gar nicht, was ich im Leben machen werde. Das war sozusagen nur ein Bedarf nach Wissen, der damals erfüllt wurde. Aber indirekt ist das doch alles von großem Nutzen, denn man muß in der Musik, solange man das Material untersucht, sehr logisch und mathematisch vorgehen. Das sind ganz wissenschaftliche Verhältnisse. Wenn man darin nicht so trainiert ist, kann man es eben nicht machen.


Sie haben damals über Josquin Desprez gearbeitet und die Mathematik hat ja bei ihm eine ganz große Rolle gespielt.


Nicht auf musikalischem Gebiet. Sicherlich nicht.


Aber die Zahlensymbolik beispielsweise war doch im 15. Jahrhundert ganz wesentlich.


Ja, aber das hat nicht auf die Form eingewirkt. Die Leute haben sich mit der Kabbalistik beschäftigt, so wie wir uns heute damit beschäftigen. Und die ganz großen Philosophen in Frankreich denken auch heute über Zahlen. Zahlenverhältnisse und Zahlensymbolik nach. Sobald es dann aber um den Ton geht, ist natürlich keine Zahl mehr dabei.


Aber für Sie ist doch die musikalische Analyse eine selbstverständliche Voraussetzung jeder Interpretation?


Aber nicht die Analyse, von der Sie sprechen. Es ist etwas, das Sie gänzlich ignorieren: die phänomenologische Analyse. Auf der einen Seite, was ist im Material drin, was ich gar nicht interpretieren kann oder darf? Und was ist die Beziehung zwischen dem, was das Material bewegt und dem menschlichen Bewußtsein? Denn was ist Musik schließlich? - eine Bewegung. Was bewegt sich? Nichts anderes als unser Bewußtsein, Man kann eben ohne die Töne zu hören, Musik empfinden. Also, es ist doch das Bewußtsein.


Wenn man nur die Partitur sieht?


Sicher. Aber der Bauer, der nichts weiter vorhat, als sein Glück auszudrücken oder seine Stimmung am Morgen, er singt. Und das sind keine Noten, keine Partitur und nichts. Das ist nur eine Form von Dynamik, die sich ausdrückt.


Nun dirigieren Sie in einem Konzert beispielsweise die 4. Sinfonie von Brahms. Das ist ein Stück, das Sie in Ihrem Leben sicher hundertmal dirigiert haben. Darf ich Sie fragen, wie Sie sich auf ein solches Konzert vorbereiten?


Ich bereite mich gar nicht vor. Das heißt, in der Studentenzeit habe ich das gelernt, da habe ich Verhältnisse festgestellt. Im Laufe der Zeit habe ich alles vertieft und dann meine Korrelationsfähigkeit zwischen den verschiedenen Momenten erweitert. Jetzt kann ich es wohl empfinden in jedem Augenblick, wo ich mich befinde, wo ich herkomme und wo ich hin will.


Sie brauchen auch während der Probe nicht die Partitur?


Ich habe sie noch nie gebraucht, zumindest in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr.


Das heißt, Sie haben auch gar keine genauere optische Vorstellung mehr von der Partitur.


Warum denn optisch?


Da ist meine Frage.


Weil Sie nicht empfinden können, was an sich die Musik, das musikalische Gedächtnis, das In-sich-Aufnehmen, was die richtigen Verhältnisse des Klanges ausmachen. Das ist alles musikalisch.


Eine Probe bedeutet demnach für Sie eine Realisation, Ihrer ganz präzisen Vorstellung von der Partitur.


Des Komponisten Vorstellung, meiner gar nicht., Ich kann mir das gar nicht erlauben, Vorstellungen  zu haben. Wenn ich schon eine Eigenschaft habe, oder ein Interpret seine Eigenschaft hat, so ist es doch nur die, sich so weit wie möglich mit diesen Momenten zu identifizieren, die die Phantasie des schöpferischen Menschen bewegt haben.


Nun müssen Sie aber doch bei einer Probe Ihre Vorstellung oder die Vorstellung, wie Sie meinen, des Komponisten, auf das Orchester übertragen.


Ja, dafür ist meine Technik da, die aber ziemlich unbekannt ist in der Welt, denn jeder macht etwas anderes. Wir stecken, wir schwimmen in einem Ignoranzbad, wie es die Welt noch nicht gekannt hat zuvor. Wir haben gar keine Techniker mehr heute. Technik heißt hier übertragen einer Geste, die in sich eine Proportion darstellen muß, die auf die Dynamik der dargestellten Passage angepaßt ist.


Gibt es da keine Unterschiede zwischen den einzelnen Orchestern? Ist es egal, ob Sie diese Vorstellung auf ein erstklassiges oder auf ein drittklassiges Orchester übertragen?


Sicher, aber ein erstklassiges wird es eher verstehen und sofort realisieren. Aber was Sie als ein mittelmäßiges Orchester bezeichnen, kann ein phantastisches Orchester werden wenn einer mit ihm zu arbeiten versteht.


Spielt Ihrer Meinung nach die Tradition eines Orchesters eine große Rolle?


Ja, im negativen Sinne. Denn Musik wurde, wenigstens behaupte ich das, noch gar nicht verstanden. Ich will damit nicht sagen, daß ich sie verstehe. Wir sind an ihr vorbeigegangen wir haben Zuflucht in den Noten gefunden und das Wesen, das eigentliche Wesen der Musik nicht wirklich realisiert.


Wir wissen, daß Sie auf sehr viele Proben Wert legen. Ist es so, wenn Sie beispielsweise acht Proben gemacht haben mit dem Südfunk-Sinfonieorchester, daß dann die Proportionen für das Konzert, das heißt für die Ausführung wirklich festgelegt sind?


Nein, da ist auch noch so Ihre konventionelle Denkweise ein Hindernis. Sehen Sie, die Zahl der Proben hängt von der Qualität des Orchesters ab. Je besser ein Orchester ist, desto mehr Möglichkeiten bietet mir jeder einzelne, um etwas zusammenzustellen. Ist das nicht der Fall bei einem mittelmäßigen Orchester, sagen wir mal, der Flötist kann nur in drei, statt dreihundert Weisen spielen, da habe ich nicht viel Wahl und kann nicht viel Zeit verlieren. Da bestehe ich auf Zusammenspiel., ein bißchen Piano, ein bißchen Forte, und damit Schluß. Kann er mir aber fünfhundert Möglichkeiten bieten, diesen Ton zu erzeugen, na, welche ist dann von diesen fünfhundert die beste und paßt mit dem Fagott zusammen? Das ist eine Zeitfrage.


Das suchen Sie während der Proben?


Nein, ich weiß es ganz genau. Wenn die Leute etwas können, wird viel Zeit vergehen. Wenn die Leute natürliche Grenzen haben, dann gibt es eine ganz kurze Probe. Aber solche kurzen Proben mag ich eben nicht. Ich habe mir jetzt die Orchester ausgesucht, die spielfähig sind nach meinen Maßstäben und die auch entwicklungsfähig sind auf diesem phänomenologischen Weg.


Ich wollte Sie noch einmal fragen, unterscheidet sich die Probe von der Aufführung?


Nein. Also die erste Probe unterscheidet sich von der zweiten, und dann die zwölfte von der elften, sicher. Da ist es ein weiteres Zugehen zu einem gewissen Punkt. Aber es steigert sich ständig, d.h. wir eignen uns alles an, was wir bei der Probe hören. Bis es dann jeder gestalten kann. Wenn das nicht der Fall ist, dann muß weiter probiert werden.


So daß eine weitere Veränderung Ihrer Interpretation dann nur noch durch verschiedene Akustik bedingt wäre, wenn Sie also eine Konzerttournee machen?


Das ist sehr richtig, was Sie sagen, denn die Akustik ist ein fortbildendes Element. Deswegen ist die Schallplatte die Vernichtung der Musik. Denn sie wird nicht in derselben Akustik gehört, in der man sie aufgenommen hat. Für uns ist es maßgebend, was für eine Akustik vorhanden ist. So ist das Tempo die direkteste Folge der Akustik und damit eine lebendige Funktion. Es gibt nicht ein einziges Tempo, das sie von Berlin nach London mitnehmen können. Ist da eine kurze Resonanz, müssen Sie die Tempi etwas beschleunigen, damit die Werte nicht auseinanderstehen und sich noch berühren. Ist die Resonanz dagegen zu lang, dann gehen die Werte übereinander, sie beschatten sich. Der Schwanz von der einen trifft den Anfang von der nächsten und so entsteht eine schreckliche Konfusion. Sie müssen das Tempo dann etwas verlangsamen, damit die Werte noch einzeln aufgenommen werden können.


Nun verstehe ich eines überhaupt nicht, daß Sie jetzt auch wieder bei einem Rundfunk arbeiten und daß Sie doch mehr als zehn Jahre beim Stockholmer Rundfunk gearbeitet haben.


Ganz falsch, ich mache doch keine Rundfunkarbeit. Ich mache Konzerte.


Sie machen aber -


Daß der Rundfunk sich einschaltet, da kann ich doch nicht nein sagen, sonst müßte ich doch sterben oder einen anderen Beruf ergreifen.


Aber Sie würden gerne nein sagen?


Aber selbstverständlich. Wenn ich Geld hätte und das Orchester bezahlen könnte. Ohne Rundfunk, natürlich würde es ohne den Rundfunk gehen. Aber man kann heutzutage nur beim Rundfunk arbeiten, denn das sind die reichsten Gesellschaften, die können die Proben geben. Wir haben für ein Konzert nicht acht Proben, wie Sie sagen sondern zwölf und in Frankreich sogar vierzehn. Bei einem der besten Orchester, dem Orchestre National de l’ORTF.


Sie sind ein, wir Sie jetzt auch wieder bestätigen, Gegner der Schallplatte. Besitzen Sie selbst überhaupt keine Schallplatten?


Sie sind auch ein Gegner, nur wissen Sie es gar nicht. Sie sind taub! Ich bin’s nicht. Sie meinen, Sie sind nicht taub, weil Sie mit mir sprechen können. Sie hören gar nicht das, worauf es ankommt. Das Mikrophon verstärkt einige Obertöne und annulliert andere. Und es mag auch interessanter klingen auf der Platte von einem ganz unmusikalischen Standpunkt aus gesehen. Was ist auf der Platte noch echt?


Es ist aber auch so, daß in einem Konzertsaal jeder Platz eine andere Akustik hat, so daß es von verschiedenen stellen aus ganz anders gehört wird.


Ellen-Unzulänglichkeiten des So-Musik-Machens!


Ja, was ist dann Ihrer Meinung nach der ideale Platz in einem Konzertsaal?


Im Badezimmer vormittags singen aus lauter Freude oder, da die Dame nicht gekommen ist, weinen mit Musik, das ist direkt und echt! Aber das tut keiner mehr. Dafür nimmt er eine Platte, und es weint ein anderer für ihn.


Interessiert es Sie beispielsweise gar nicht, wie Arthur Nikisch  dirigiert hat?


Selbstverständlich interessiert mich das sehr. Ich habe sogar in London eine Aufnahme gehört.


Eine Aufnahme! Also nicht ein Konzert.


Ich bin zu jung, um das gehört zu haben.


Sehen Sie, das ist die Frage. Wie sollen sich gerade junge Leute heute über Furtwängler und Toscanini informieren?


Wieso denn? Warum soll ich durch Furtwängler-Hunger satt werden? Ich habe einen Musikbedarf in mir, und er ist selbstverständlich unter gewissen Umständen zu befriedigen. Wieso sollen Sie jetzt nach Nikisch trachten und Sehnsucht haben. Wenn Sie nie eine Zigarette geraucht haben, können Sie doch auch nicht sagen, ich kann nicht ohne Zigarette auskommen. Was fehlt Ihnen Nikisch? Sie haben sich selbst noch nicht gefunden. Sie sind außerhalb der Musik, mögen Sie der Herr sein, der vor mir sitzt und hundert andere Pressemänner. Sie sind außerhalb der Musik, angefangen mit Stuckenschmidt usw. usw. ......


Also, mir können Sie es nicht vorwerfen, weil ich auch sehr gerne alleine Geige spiele, ganz alleine für mich.


Das ist doch ganz egal. Sie sind ein Symbol.


Gut.


Ja, wäre das nicht so gewesen, wäre heute die Musik nicht da, wo sie eben ist, in absoluter Mittelmäßigkeit. Es gibt nicht einen neuen Dirigenten, der noch Musik versteht oder der den Unterschied zwischen Noten und Musik begreifen kann. Ihr seid alle Notenjäger, und Musik hat nichts mit Noten zu tun! Noten sind Vehikel, die eine Substanz transportieren. Das ist die Musik. Sicherlich kann sie nichts ohne diese Vehikel erreichen, sie vermaterialisiert sich durch diese Vehikel. Aber sie ist nicht in den Noten.


Herr Professor Celibidache, Sie haben sich sehr viel mit Studenten auseinandergesetzt und Sie haben sehr viele Studentenkurse gemacht für Dirigenten. Wie arbeiten Sie mit diesen jungen Leuten?


Zunächst so, wie man mit mir auch gearbeitet hat. Ich bringe Ihnen ein bißchen Schlagtechnik bei und damit die Bewegung, die eine Phrase ausdrücken kann. Dann studiere ich mit ihnen Phänomenologie, die Verobjektivierung des Materials. Wie verhalten sich alle die Werte im Menschenbewußtsein, ohne daß derjenige, der zuhört, etwas davon will? Jetzt will ich etwas machen, oder hier möchte ich was anderes machen. Frei von alledem sein! Wie verhalten sie sich, zwei Töne im Raum, was ist denn das alles? Wieso kann es mein Bewußtsein wahrnehmen und es verarbeiten im musikalischen Sinne? Da sind die zwei Sparten meiner Konzentration. So arbeite ich mit Studenten.


Wie können Sie überhaupt feststellen, daß ein junger Musiker sich als Dirigent eignet?


Ja, das ist natürlich schwer und kaum so schnell zu sagen. Ich kann es auch gar nicht feststellen, und deshalb habe ich nie zu einem Studenten nein gesagt. Ich habe lauter Aufnahmeprüfungen gemacht, so wie man sie früher gemacht hat, und man hat festgestellt, ob der Man ein Interesse hat für den wissenschaftlichen Teil der Musik, also Musikwissenschaft. Kann er das gut beherrschen, Harmonie, Fuge, Analyse, Formanalyse usw.? Hat er das Zeug, abstrakt zu denken? Ja, da sind schon zwei Gesichtspunkte. Schließlich: Kann er zwei oder drei oder fünf oder fünfzehn Töne korrelationieren, d. h. in Verbindung zueinander empfinden? Und das überprüft man, indem er ein Instrument spielt oder eine kleine Probe vordirigiert usw. Und aus dieser Probe in einem Kursus werden natürlich dann 12 Leute ausgesucht, die auch praktisch mit dem Orchester eine halbe Stunde am Tag arbeiten.


Die kommen dann und stellen sich das erste Mahl vor ein Orchester?


Sicher. Nein, meistens sind das Leute, die schon dirigiert habe. Aber auch welche, die noch nie dirigiert habe, so wie ich 1945.


Was halten Sie denn von Dirigentenwettbewerben?


Nichts, absolut nichts, der allergrößte Unsinn. Zunächst: die Juroren sind absolut inkompetent. Denn Dirigenten sind lauter Menschen, die aus Empirismus kommen. Der eine macht das so, der andere so. Es gibt überhaupt keine Schlagtechnik, denn die Menschen haben die Physiologie des Körpers nicht verstanden und ihre Beziehung zur Physiologie der Musik. Denn die Bewegung in der Musik ist physiologisch bedingt. Musik ist Gegenüberstellung von Klängen, von Klangmassen. Ja, wie sollen die das beurteilen? Ich war ein einziges Mal Mitglied einer Jury, und ich habe die Idiotien gehört, die da vorgetragen wurden. Und schließlich macht dann der das Rennen, der mit Temperament dirigiert, denn Temperament sieht jeder. Ob die Geste zu etwas Musik geholfen hat, um Gottes Willen, wer soll das beurteilen? Furtwängler hätte es nicht gekonnt, denn er hat überhaupt keine Geste gehabt. Nikisch hätte es nicht gekonnt, denn er hat auch keine Geste gehabt. Aber sie hatten eine wunderbare Autorität, in ganz anderer Weise...


Aber ist denn das nicht letzten Endes entscheidend, die Persönlichkeit, und das kann man doch feststellen!


Was soll denn die Persönlichkeit entscheiden? Den Text verstehen?


Nein, ich würde sagen, die Autorität, um eine Vorstellung auf ein Orchester zu übertragen.


Das ist eine Bedingung, daß sie die Autorität haben, dem Orchester etwas zu übertragen. Aber was übertragen sie? Das hat sich keiner gefragt. Ordinarität, Trivialität, Geistigkeit usw. Was wollen Sie übertragen?


Nach Möglichkeit die Vorstellung des Komponisten-


Woher wissen Sie was davon? Die Welt hat in 150 Jahren bewiesen, daß sie es nicht verstanden hat. Das Siegfried-Idyll unter Wagners Taktstock hat 30 Minuten gedauert, unter Bernhard Haitink dauert es 12 Minuten. Sie sprechen von derselben Sache. Alle haben übertragen. Wagner auch. Ich nehme an, daß er mehr davon gewußt hat. Was ist das? Ein Skandal! Was war Knappertsbusch für ein Skandal! Man hat von ihm gesagt, er nähme breite Tempi. Es waren nicht breite Tempi. Es war Unmusik bis dorthinaus. Er hatte aber auch Momente von Musik. Es stimmt. Nehmen Sie doch eine Haydn-Symphonie. Es ist ein Skandal. Er hat überhaupt keine Empfindungen gehabt für das Verhältnis: vertikaler Druck - horizontaler Fluß. Das ist schließlich das, was Musik ausmacht. Furtwängler hatte eine enorme Persönlichkeit, aber was hat er uns für eine Ecke Musik hinterlassen? Nicht ein Takt ist zu übernehmen. Aber kann die Musik so persönlich aufgefaßt werden? Ist da nichts, was den Menschen übertrifft? Geht sie nicht über das, was Sie sind, was ich bin und sogar, was der Komponist ist? Ich meine doch. Denn, das Traurige in einem Mozart-Andante ist nicht Ihres und ist nicht meines. Das ist auch nicht einmal Weltschmerz. Es ist darüber.


Aber wer kann es dann heute realisieren?

Sicher nicht die Leute, auf die Sie gesetzt haben. Todsicher nicht. Nicht Mehta und nicht Maazel, und wie sie alle heißen. Was die machen, ist außerhalb jeder Form von Musik, das ist Notenvirtuosität.


Es kann dann nur noch heißen: Celibidache.


Um Gottes Willen, ich spreche nicht von mir, ich habe schon so angefangen. Ich sage nicht, daß ich es kann. Ich sage nur, daß das, was ich höre, nicht Musik ist. Sie müssen mir sagen, ob das, was ich mache, für Sie Musik ist. Wenn es soweit ist. Sie sind aber dazu nicht in der Lage, denn wir müssen zusammenleben, zwei, drei Jahre, bis wir über die Noten hinwegkommen. Ob das zu machen ist, wird sich zeigen. Ich habe über 6000 Schüler gehabt in diesem kurzen Leben, ich habe nicht einen gehabt, der die Geduld, die Bescheidenheit und den Fanatismus hatte, wirklich durchzuschauen, was das alles ist.  Also, es ist eine Bilanz, die ziemlich negativ ausfällt.


Dann sind Sie eigentlich ständig am Verzweifeln.


Nein, um Gottes willen, ich bin sehr realistisch., Ich verzweifle nicht, die Welt ist nun mal so. Wenn ich sie gemacht hätte, wäre ich sicherlich verzweifelt. Ich bin aber ganz unschuldig. Nicht meine kleine Welt kann ich besser gestalten. Was soll ich mit der großen Anfangen.


Wenn Sie auf Ihre eigene Dirigentenkarriere zurückblicken und jetzt noch einmal starten würden, würden Sie etwas ganz anders machen?

Ja, den allerersten Anfang. Zum Beispiel die Berliner Zeit. Natürlich, da habe ich irgendwie intellektuell und theoretisch gewußt, daß Musik nicht so ist,  daß sie nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab’s aber nicht gekonnt. Bis einmal ein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: “Du bist ein Idiot”.


Wer war das?


Ich würde es Ihnen nicht sagen. “Du bist ein Idiot, ich habe meine Zeit mit dir und mir vertan”. Und was tat ich: ich reiste nach Amerika, und die ganze Welt sprach von den ungeheuren Erfolgen des jungen Celibidache. Ich habe irgendwie gespürt,  er hat recht. Nicht die anderen. Denn man hat mir praktisch die Krone von Toscanini angeboten, als ich 1949 in Berlin war. Ich habe nein gesagt. Damals war dieser Schock noch nicht da, das kam er 52. Und durch diesen Mann habe ich alles verloren, was ich hatte, und doch habe ich mich nicht als arm betrachtet. Er sagte mir, fange wieder mit ganz kleinen Formen an,. Was meinte er? Es ist ein Gefühl, das man in der Philosophie das “Bewußtwerden” nennt, im Unterschied zum “Bewußtsein”. Nicht greifen, sondern ständig bewußt werden. Und in jedem Augenblick wissen, wo man sich befindet. Ich muß das Cis empfinden in Beziehung zu der Reihe und der Kombination von Intervallen, die bis zum Cis geführt haben. Denn sie sind in diesem Cis enthalten. Und so ist auch die Zukunft von diesem Cis in ihm enthalten. Also muß ich in der Vergangenheit empfinden und in der Zukunft. Aber wo? In der Gleichzeitigkeit! Das heißt Bewußtwerden und nicht nach dem Bewußtsein greifen,


Herr Celibidache, konnten Sie in dieser Zeit, dieser Krise, eigentlich überhaupt noch dirigieren?


Na - dirigieren konnte ich schon. Aber natürlich nicht in diesem Sinne. Da habe ich mich mit ganz kleinen Formen beschäftigt, u.a. mit der Tafelmusik von Telemann. Und meine ganze Aufmerksamkeit war dahin gerichtet, die allgemeine Form aus dem einzelnen zu empfinden. Und nach zwei Jahren habe ich dann meinen Professor wieder eingeladen und er sagte: “Ja, jetzt sehe ich schon, daß Du darauf achtest, das wird schon werden.” Und dann später habe ich in der Staatsoper dirigiert. Er war wieder dabei und sagte: “Ja, ich habe gewußt, daß Du hinkommst”. Also, das war’s.


Ich glaube, es war Heinz Thiessen. Wir brauchen kein Geheimnis daraus zu machen. Und das ist ein Mann, der Ihnen doch sehr am Herzen liegt. Unter anderem haben Sie zu seinem siebzigsten Geburtstag ein Konzert in Berlin dirigiert.


Ja, das habe ich gemacht.


Können Sie noch etwas von der Zusammenarbeit mit Heinz Thiessen sagen? Haben Sie an ihm auch seine Kompositionen bewundert?


Ja, selbstverständlich. Das war so ein Einzelgänger und ein sehr bescheidener Mensch - aber von einer ganz hohen Geistigkeit. Von ihm habe ich verschiedene Sachen, ich möchte direkt sagen, geerbt. So zunächst das Alles-für-sich-Behalten, obwohl das mit meiner Art und mit meinem kämpferischen Geist gar nicht zusammenpaßt. Von ihm habe ich gelernt, doch auf alles zu verzichten, was nicht in meinem Griffbereich liegt.


Sie hatten Kompositionsunterricht bei ihm?


Ja.


Und das Dirigieren haben Sie auch von ihm gelernt damals?


Nein, gar nicht. Das habe ich von Walter Gmeindl gelernt, aber nur theoretisch. Wir hatten im Krieg kein Orchester, mußten Partituren analysieren und doch viel wissen über die Technik der Zeit: Wie die technische Einstellung unserer Zeit diese Werke beurteilt und auseinandernimmt, was aber für den musikalischen, den phänomenologischen Sinn überhaupt keine Bedeutung hat., Wir haben alle Harmonie studiert, Kontrapunkt, aber keiner hat uns gesagt, wie denn die Klangmasse verläuft und was die Spannung macht, wenn ich von G-Dur nach D-Dur gehe.


Sie sind 1946 Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters geworden. Wie kam das?


Ja, das war so: Leo Borchard starb und ich wurde vom Orchester eingeladen, ein Konzert draußen in Zehlendorf zu dirigieren.


Sie hatten vorher nie dirigiert?


Nein, aber - doch ich habe in der Schule so ein bißchen dirigiert, aber ein Orchester nicht. Die Philharmoniker haben mir ein Konzert gegeben und nach diesem Konzert war also ein guter Eindruck da. Ich glaube auch, die Hauptsache war, daß die Deutschen, die einen Namen hatten und wahrscheinlich viel mehr konnten als ich, damals politisch belastet waren., Und ich war politisch eine Jungfrau. So haben sie dann mich gewählt und von den Amerikaner bestätigen lassen. Dann bin ich bis 1952 in Berlin gewesen.


Sie wollten ja später ganz fraglos der Nachfolger von Wilhelm Furtwängler werden. Sie sind es nicht geworden-


Gar nicht - Es ist gar nicht wahr, daß ich das wollte. Ich wollte nicht Nachfolger von Furtwängler werden. Keiner kann Nachfolger von Furtwängler sein. Und als dieses Problem kam, da habe ich so viel Böses in Berlin in mich aufgenommen, daß ich wirklich nicht geblieben wäre. Und das war auch meine Rettung. Denn die Berliner haben gegen mich gekämpft aus ganz verschiedenen Gründen. Und ich habe auch nicht ruhig einkassiert, sondern zurückgeschlagen.


Ich kann Ihnen aufgrund des Einblicks in die Presse von damals das nicht bestätigen. Man hat bestimmte Dinge von Ihnen kritisiert...


Lassen Sie-, lassen Sie das sein -, die haben doch nichts von mir verstanden.


Das mag sein, aber man hat Sie in Berlin doch sehr geliebt und hat eigentlich später noch-


-aber nicht die Presse und nicht der Senat und weiß ich was für Autoritäten. Die haben da irgendwo einen gesehen, der sich großmachen möchte, und das war gar nicht der Fall. Denn ich habe gekämpft wie ein Wahnsinniger, daß Furtwängler entnazifiziert wurde. Und das war mein Stolz, ihm zu sagen, Herr Doktor, hier dies ist Ihr Orchester. Nie habe ich die Absicht gehabt, mit ihm zu konkurrieren, nie im Leben. Wenn er ein anständigerer Mensch gewesen wäre, wäre heute noch die Situation da. Ich habe gesagt, Herr Doktor, was möchten Sie machen? Doch mir sagte er das eine, und dem Senat sagt er etwas ganz anderes. Und da kam es zu Reibereien, ihm war vieles nicht recht, was mit mir geschah, und er hat angefangen, schlecht über mich zu sprechen. 1952 habe ich mich entschlossen, doch das alles liegenzulassen und woanders zu sehen, wie ich weiterkomme. Dann ging ich nach London und Italien. Aber, Sie sagen, daß die Berliner mich geliebt haben, - das stimmt. Und Sie sind vielleicht nicht im Bilde. Ich bin kein Deutscher, aber ein Berliner. Und ich kämpfe miserablerweise auch heute noch um mein Visum. Ich muß für jeden neuen Besuch in Europa oder in einem anderen Staat vier Wochen vorher einen Antrag stellen, weil ich einen Berliner Paß habe., Und ich kämpfe weiter mit diesem Berliner Paß. Es ist doch ein Kinderspiel, Franzose in 24 Stunden zu werden, Amerikaner in einer Stunde oder Deutscher. Nein - ich bleibe Berliner. Auch wenn das für mich so schwer ist, alle zwei Jahre bei den Berliner Behörden anzufragen, ob ich weiter einen Berliner Paß haben darf. Und ich bin glücklich, daß ich das darf. Und ich stehe Berlin sehr nahe. Ich liebe die Berliner.  Ich habe sie in der Not erlebt, und ich kann mir keinen besseren Menschenschlag vorstellen. Sie haben das letzte Stück Brot im Kriege mit mir geteilt. Das ist doch einmalig. Was war ich denn 1944. Ein dreckiger Rumäne, und doch, wo’s um Leben und Tod ginge, da haben sie mich geschätzt, ernährt und gewaschen. Ja, aber es gibt nicht nur solche Menschen in Berlin, es gibt auch andere. Es gibt auch neugewordene Berliner, die mir, als die Philharmonie eingeweiht wurde, eine gedruckte Einladung und eine Zahlkarte geschickt haben, um einen Platz für die Eröffnung der Philharmonie anzumelden.  Das sind auch Berliner, sehen Sie., Aber von denen will ich nichts wissen. Und wenn ich heute nicht in Berlin dirigiere, so ist es einfach nur aus diesem Grund. Ich habe keine Zeit mehr, freie Konzerte zu dirigieren. Auch die Wiener Philharmoniker habe ich dirigiert. Ein mittelmäßiges Orchester, Ich kann mit ihnen nichts anfangen. Sie sind ein Mezzoforte. Sie verstehen gar nicht, was Struktur, was natürliche Ordnung der Instrumente, wie der Klang ist. Und dazu noch haben Sie auch kein Interesse. Denken Sie, es ist Orchester, wo in einer Mozart-Symphonie Sprünge legalisiert sind für alle Zeiten - bei Mozart! Denken Sie! Und so ein Orchester macht mit einem großen Dirigenten zwanzig Mozart-Symphonien, wobei der nicht ein einziges Mal den Mund geöffnet hat. Das ist Musik für sie heute, nicht für mich. Ich habe keine Zeit, mich mit einem Orchester so zu beschäftigen. Wo ich hinkomme, mache ich zwei Perioden im Jahr, ohne Generalmusikdirektor zu sein: drei Wochen im Herbst, drei Wochen im Frühjahr. So kann ich über die Entwicklung des Orchesters irgendwie Bescheid wissen und viel dazu tun. Auch einzelne Konzerte gebe ich nirgends.


Sind Sie außer mit dem Südfunk-Orchester auch noch mit anderen Orchestern verbunden?


Ja, hauptsächlich arbeite ich mit dem Orchestre National de l’ORTF in Paris und mit den Stuttgartern. Und ich muß sagen, in allen beiden Fällen ist eine derart gewaltige Entwicklung zu beobachten, das ist direkt beängstigend.


Warum ist das beängstigend?


Weil ich schon auf diese Indifferenz der Zeit, auf diese Mittelmäßigkeit und die Ignoranz auf jedem Gebiet eingestellt war. Wieso kann man noch so schön in Stuttgart musizieren? Da muß ich mein ganzes Credo noch mal revidieren. Also mit 62 Jahren ist das doch beängstigend.


Liegt das nur am Orchester oder auch am Publikum?


Nein, das Publikum hat dabei überhaupt nichts zu sagen, Es liegt an einem gesunden Menschenschlag, der sich, Gott weiß wie, noch erhalten hat. Es ist mir nicht sehr klar, warum. Die Begeisterungsfähigkeit, der Respekt, der Ton in der Arbeit. Und ich schenke denen doch nichts! Wir haben es glaube ich, in vier Städten gelesen, daß sie nie die 4. Symphonie von Brahms so gehört haben. Und ich muß es sagen, auch ich denke so - nicht, weil ich es dirigiert habe, sondern weil es vom Orchester so verwirklicht wurde.