Dr. Klaus Lang im Interview...
Ein Gespräch mit Sergiu Celibidache
K. Lang: Sie haben, Herr Professor Celibidache, in Rumänien (Ihrer Heimat) und in Berlin Mathematik, Philosophie und Musikwissenschaft studiert. Sind diese Denkformen auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil Ihrer musikalischen Interpretation?
S.
Celibidache: Sicherlich nicht. Als ich damals
das alles studierte, wußte ich gar nicht, was ich
im Leben machen werde. Das war sozusagen nur ein
Bedarf nach Wissen, der damals erfüllt wurde. Aber
indirekt ist das doch alles von großem Nutzen, denn
man muß in der Musik, solange man das Material untersucht,
sehr logisch und mathematisch vorgehen. Das sind
ganz wissenschaftliche Verhältnisse. Wenn man darin
nicht so trainiert ist, kann man es eben nicht machen.
Sie
haben damals über Josquin Desprez gearbeitet und
die Mathematik hat ja bei ihm eine ganz große Rolle
gespielt.
Nicht
auf musikalischem Gebiet. Sicherlich nicht.
Aber
die Zahlensymbolik beispielsweise war doch im 15.
Jahrhundert ganz wesentlich.
Ja,
aber das hat nicht auf die Form eingewirkt. Die
Leute haben sich mit der Kabbalistik beschäftigt,
so wie wir uns heute damit beschäftigen. Und die
ganz großen Philosophen in Frankreich denken auch
heute über Zahlen. Zahlenverhältnisse und Zahlensymbolik
nach. Sobald es dann aber um den Ton geht, ist natürlich
keine Zahl mehr dabei.
Aber
für Sie ist doch die musikalische Analyse eine selbstverständliche
Voraussetzung jeder Interpretation?
Aber
nicht die Analyse, von der Sie sprechen. Es ist
etwas, das Sie gänzlich ignorieren: die phänomenologische
Analyse. Auf der einen Seite, was ist im Material
drin, was ich gar nicht interpretieren kann oder
darf? Und was ist die Beziehung zwischen dem, was
das Material bewegt und dem menschlichen Bewußtsein?
Denn was ist Musik schließlich? - eine Bewegung.
Was bewegt sich? Nichts anderes als unser Bewußtsein,
Man kann eben ohne die Töne zu hören, Musik empfinden.
Also, es ist doch das Bewußtsein.
Wenn
man nur die Partitur sieht?
Sicher.
Aber der Bauer, der nichts weiter vorhat, als sein
Glück auszudrücken oder seine Stimmung am Morgen,
er singt. Und das sind keine Noten, keine Partitur
und nichts. Das ist nur eine Form von Dynamik, die
sich ausdrückt.
Nun
dirigieren Sie in einem Konzert beispielsweise die
4. Sinfonie von Brahms. Das ist ein Stück, das Sie
in Ihrem Leben sicher hundertmal dirigiert haben.
Darf ich Sie fragen, wie Sie sich auf ein solches
Konzert vorbereiten?
Ich
bereite mich gar nicht vor. Das heißt, in der Studentenzeit
habe ich das gelernt, da habe ich Verhältnisse festgestellt.
Im Laufe der Zeit habe ich alles vertieft und dann
meine Korrelationsfähigkeit zwischen den verschiedenen
Momenten erweitert. Jetzt kann ich es wohl empfinden
in jedem Augenblick, wo ich mich befinde, wo ich
herkomme und wo ich hin will.
Sie
brauchen auch während der Probe nicht die Partitur?
Ich
habe sie noch nie gebraucht, zumindest in den letzten
zwanzig Jahren nicht mehr.
Das
heißt, Sie haben auch gar keine genauere optische
Vorstellung mehr von der Partitur.
Warum
denn optisch?
Da
ist meine Frage.
Weil
Sie nicht empfinden können, was an sich die Musik,
das musikalische Gedächtnis, das In-sich-Aufnehmen,
was die richtigen Verhältnisse des Klanges ausmachen.
Das ist alles musikalisch.
Eine
Probe bedeutet demnach für Sie eine Realisation,
Ihrer ganz präzisen Vorstellung von der Partitur.
Des
Komponisten Vorstellung, meiner gar nicht., Ich
kann mir das gar nicht erlauben, Vorstellungen zu
haben. Wenn ich schon eine Eigenschaft habe, oder
ein Interpret seine Eigenschaft hat, so ist es doch
nur die, sich so weit wie möglich mit diesen Momenten
zu identifizieren, die die Phantasie des schöpferischen
Menschen bewegt haben.
Nun
müssen Sie aber doch bei einer Probe Ihre Vorstellung
oder die Vorstellung, wie Sie meinen, des Komponisten,
auf das Orchester übertragen.
Ja,
dafür ist meine Technik da, die aber ziemlich unbekannt
ist in der Welt, denn jeder macht etwas anderes.
Wir stecken, wir schwimmen in einem Ignoranzbad,
wie es die Welt noch nicht gekannt hat zuvor. Wir
haben gar keine Techniker mehr heute. Technik heißt
hier übertragen einer Geste, die in sich eine Proportion
darstellen muß, die auf die Dynamik der dargestellten
Passage angepaßt ist.
Gibt
es da keine Unterschiede zwischen den einzelnen
Orchestern? Ist es egal, ob Sie diese Vorstellung
auf ein erstklassiges oder auf ein drittklassiges
Orchester übertragen?
Sicher,
aber ein erstklassiges wird es eher verstehen und
sofort realisieren. Aber was Sie als ein mittelmäßiges
Orchester bezeichnen, kann ein phantastisches Orchester
werden wenn einer mit ihm zu arbeiten versteht.
Spielt
Ihrer Meinung nach die Tradition eines Orchesters
eine große Rolle?
Ja,
im negativen Sinne. Denn Musik wurde, wenigstens
behaupte ich das, noch gar nicht verstanden. Ich
will damit nicht sagen, daß ich sie verstehe. Wir
sind an ihr vorbeigegangen wir haben Zuflucht in
den Noten gefunden und das Wesen, das eigentliche
Wesen der Musik nicht wirklich realisiert.
Wir
wissen, daß Sie auf sehr viele Proben Wert legen.
Ist es so, wenn Sie beispielsweise acht Proben gemacht
haben mit dem Südfunk-Sinfonieorchester, daß dann
die Proportionen für das Konzert, das heißt für
die Ausführung wirklich festgelegt sind?
Nein,
da ist auch noch so Ihre konventionelle Denkweise
ein Hindernis. Sehen Sie, die Zahl der Proben hängt
von der Qualität des Orchesters ab. Je besser ein
Orchester ist, desto mehr Möglichkeiten bietet mir
jeder einzelne, um etwas zusammenzustellen. Ist
das nicht der Fall bei einem mittelmäßigen Orchester,
sagen wir mal, der Flötist kann nur in drei, statt
dreihundert Weisen spielen, da habe ich nicht viel
Wahl und kann nicht viel Zeit verlieren. Da bestehe
ich auf Zusammenspiel., ein bißchen Piano, ein bißchen
Forte, und damit Schluß. Kann er mir aber fünfhundert
Möglichkeiten bieten, diesen Ton zu erzeugen, na,
welche ist dann von diesen fünfhundert die beste
und paßt mit dem Fagott zusammen? Das ist eine Zeitfrage.
Das
suchen Sie während der Proben?
Nein,
ich weiß es ganz genau. Wenn die Leute etwas können,
wird viel Zeit vergehen. Wenn die Leute natürliche
Grenzen haben, dann gibt es eine ganz kurze Probe.
Aber solche kurzen Proben mag ich eben nicht. Ich
habe mir jetzt die Orchester ausgesucht, die spielfähig
sind nach meinen Maßstäben und die auch entwicklungsfähig
sind auf diesem phänomenologischen Weg.
Ich
wollte Sie noch einmal fragen, unterscheidet sich
die Probe von der Aufführung?
Nein.
Also die erste Probe unterscheidet sich von der
zweiten, und dann die zwölfte von der elften, sicher.
Da ist es ein weiteres Zugehen zu einem gewissen
Punkt. Aber es steigert sich ständig, d.h. wir eignen
uns alles an, was wir bei der Probe hören. Bis es
dann jeder gestalten kann. Wenn das nicht der Fall
ist, dann muß weiter probiert werden.
So
daß eine weitere Veränderung Ihrer Interpretation
dann nur noch durch verschiedene Akustik bedingt
wäre, wenn Sie also eine Konzerttournee machen?
Das
ist sehr richtig, was Sie sagen, denn die Akustik
ist ein fortbildendes Element. Deswegen ist die
Schallplatte die Vernichtung der Musik. Denn sie
wird nicht in derselben Akustik gehört, in der man
sie aufgenommen hat. Für uns ist es maßgebend, was
für eine Akustik vorhanden ist. So ist das Tempo
die direkteste Folge der Akustik und damit eine
lebendige Funktion. Es gibt nicht ein einziges Tempo,
das sie von Berlin nach London mitnehmen können.
Ist da eine kurze Resonanz, müssen Sie die Tempi
etwas beschleunigen, damit die Werte nicht auseinanderstehen
und sich noch berühren. Ist die Resonanz dagegen
zu lang, dann gehen die Werte übereinander, sie
beschatten sich. Der Schwanz von der einen trifft
den Anfang von der nächsten und so entsteht eine
schreckliche Konfusion. Sie müssen das Tempo dann
etwas verlangsamen, damit die Werte noch einzeln
aufgenommen werden können.
Nun
verstehe ich eines überhaupt nicht, daß Sie jetzt
auch wieder bei einem Rundfunk arbeiten und daß
Sie doch mehr als zehn Jahre beim Stockholmer Rundfunk
gearbeitet haben.
Ganz
falsch, ich mache doch keine Rundfunkarbeit. Ich
mache Konzerte.
Sie
machen aber -
Daß
der Rundfunk sich einschaltet, da kann ich doch
nicht nein sagen, sonst müßte ich doch sterben oder
einen anderen Beruf ergreifen.
Aber
Sie würden gerne nein sagen?
Aber
selbstverständlich. Wenn ich Geld hätte und das
Orchester bezahlen könnte. Ohne Rundfunk, natürlich
würde es ohne den Rundfunk gehen. Aber man kann
heutzutage nur beim Rundfunk arbeiten, denn das
sind die reichsten Gesellschaften, die können die
Proben geben. Wir haben für ein Konzert nicht acht
Proben, wie Sie sagen sondern zwölf und in Frankreich
sogar vierzehn. Bei einem der besten Orchester,
dem Orchestre National de l’ORTF.
Sie
sind ein, wir Sie jetzt auch wieder bestätigen,
Gegner der Schallplatte. Besitzen Sie selbst überhaupt
keine Schallplatten?
Sie
sind auch ein Gegner, nur wissen Sie es gar nicht.
Sie sind taub! Ich bin’s nicht. Sie meinen, Sie
sind nicht taub, weil Sie mit mir sprechen können.
Sie hören gar nicht das, worauf es ankommt. Das
Mikrophon verstärkt einige Obertöne und annulliert
andere. Und es mag auch interessanter klingen auf
der Platte von einem ganz unmusikalischen Standpunkt
aus gesehen. Was ist auf der Platte noch echt?
Es
ist aber auch so, daß in einem Konzertsaal jeder
Platz eine andere Akustik hat, so daß es von verschiedenen
stellen aus ganz anders gehört wird.
Ellen-Unzulänglichkeiten
des So-Musik-Machens!
Ja,
was ist dann Ihrer Meinung nach der ideale Platz
in einem Konzertsaal?
Im
Badezimmer vormittags singen aus lauter Freude oder,
da die Dame nicht gekommen ist, weinen mit Musik,
das ist direkt und echt! Aber das tut keiner mehr.
Dafür nimmt er eine Platte, und es weint ein anderer
für ihn.
Interessiert
es Sie beispielsweise gar nicht, wie Arthur Nikisch
dirigiert hat?
Selbstverständlich
interessiert mich das sehr. Ich habe sogar in London
eine Aufnahme gehört.
Eine
Aufnahme! Also nicht ein Konzert.
Ich
bin zu jung, um das gehört zu haben.
Sehen
Sie, das ist die Frage. Wie sollen sich gerade junge
Leute heute über Furtwängler und Toscanini informieren?
Wieso
denn? Warum soll ich durch Furtwängler-Hunger satt
werden? Ich habe einen Musikbedarf in mir, und er
ist selbstverständlich unter gewissen Umständen
zu befriedigen. Wieso sollen Sie jetzt nach Nikisch
trachten und Sehnsucht haben. Wenn Sie nie eine
Zigarette geraucht haben, können Sie doch auch nicht
sagen, ich kann nicht ohne Zigarette auskommen.
Was fehlt Ihnen Nikisch? Sie haben sich selbst noch
nicht gefunden. Sie sind außerhalb der Musik, mögen
Sie der Herr sein, der vor mir sitzt und hundert
andere Pressemänner. Sie sind außerhalb der Musik,
angefangen mit Stuckenschmidt usw. usw. ......
Also,
mir können Sie es nicht vorwerfen, weil ich auch
sehr gerne alleine Geige spiele, ganz alleine für
mich.
Das
ist doch ganz egal. Sie sind ein Symbol.
Gut.
Ja,
wäre das nicht so gewesen, wäre heute die Musik
nicht da, wo sie eben ist, in absoluter Mittelmäßigkeit.
Es gibt nicht einen neuen Dirigenten, der noch Musik
versteht oder der den Unterschied zwischen Noten
und Musik begreifen kann. Ihr seid alle Notenjäger,
und Musik hat nichts mit Noten zu tun! Noten sind
Vehikel, die eine Substanz transportieren. Das ist
die Musik. Sicherlich kann sie nichts ohne diese
Vehikel erreichen, sie vermaterialisiert sich durch
diese Vehikel. Aber sie ist nicht in den Noten.
Herr
Professor Celibidache, Sie haben sich sehr viel
mit Studenten auseinandergesetzt und Sie haben sehr
viele Studentenkurse gemacht für Dirigenten. Wie
arbeiten Sie mit diesen jungen Leuten?
Zunächst
so, wie man mit mir auch gearbeitet hat. Ich bringe
Ihnen ein bißchen Schlagtechnik bei und damit die
Bewegung, die eine Phrase ausdrücken kann. Dann
studiere ich mit ihnen Phänomenologie, die Verobjektivierung
des Materials. Wie verhalten sich alle die Werte
im Menschenbewußtsein, ohne daß derjenige, der zuhört,
etwas davon will? Jetzt will ich etwas machen, oder
hier möchte ich was anderes machen. Frei von alledem
sein! Wie verhalten sie sich, zwei Töne im Raum,
was ist denn das alles? Wieso kann es mein Bewußtsein
wahrnehmen und es verarbeiten im musikalischen Sinne?
Da sind die zwei Sparten meiner Konzentration. So
arbeite ich mit Studenten.
Wie
können Sie überhaupt feststellen, daß ein junger
Musiker sich als Dirigent eignet?
Ja,
das ist natürlich schwer und kaum so schnell zu
sagen. Ich kann es auch gar nicht feststellen, und
deshalb habe ich nie zu einem Studenten nein gesagt.
Ich habe lauter Aufnahmeprüfungen gemacht, so wie
man sie früher gemacht hat, und man hat festgestellt,
ob der Man ein Interesse hat für den wissenschaftlichen
Teil der Musik, also Musikwissenschaft. Kann er
das gut beherrschen, Harmonie, Fuge, Analyse, Formanalyse
usw.? Hat er das Zeug, abstrakt zu denken? Ja, da
sind schon zwei Gesichtspunkte. Schließlich: Kann
er zwei oder drei oder fünf oder fünfzehn Töne korrelationieren,
d. h. in Verbindung zueinander empfinden? Und das
überprüft man, indem er ein Instrument spielt oder
eine kleine Probe vordirigiert usw. Und aus dieser
Probe in einem Kursus werden natürlich dann 12 Leute
ausgesucht, die auch praktisch mit dem Orchester
eine halbe Stunde am Tag arbeiten.
Die
kommen dann und stellen sich das erste Mahl vor
ein Orchester?
Sicher.
Nein, meistens sind das Leute, die schon dirigiert
habe. Aber auch welche, die noch nie dirigiert habe,
so wie ich 1945.
Was
halten Sie denn von Dirigentenwettbewerben?
Nichts,
absolut nichts, der allergrößte Unsinn. Zunächst:
die Juroren sind absolut inkompetent. Denn Dirigenten
sind lauter Menschen, die aus Empirismus kommen.
Der eine macht das so, der andere so. Es gibt überhaupt
keine Schlagtechnik, denn die Menschen haben die
Physiologie des Körpers nicht verstanden und ihre
Beziehung zur Physiologie der Musik. Denn die Bewegung
in der Musik ist physiologisch bedingt. Musik ist
Gegenüberstellung von Klängen, von Klangmassen.
Ja, wie sollen die das beurteilen? Ich war ein einziges
Mal Mitglied einer Jury, und ich habe die Idiotien
gehört, die da vorgetragen wurden. Und schließlich
macht dann der das Rennen, der mit Temperament dirigiert,
denn Temperament sieht jeder. Ob die Geste zu etwas
Musik geholfen hat, um Gottes Willen, wer soll das
beurteilen? Furtwängler hätte es nicht gekonnt,
denn er hat überhaupt keine Geste gehabt. Nikisch
hätte es nicht gekonnt, denn er hat auch keine Geste
gehabt. Aber sie hatten eine wunderbare Autorität,
in ganz anderer Weise...
Aber
ist denn das nicht letzten Endes entscheidend, die
Persönlichkeit, und das kann man doch feststellen!
Was
soll denn die Persönlichkeit entscheiden? Den Text
verstehen?
Nein,
ich würde sagen, die Autorität, um eine Vorstellung
auf ein Orchester zu übertragen.
Das
ist eine Bedingung, daß sie die Autorität haben,
dem Orchester etwas zu übertragen. Aber was übertragen
sie? Das hat sich keiner gefragt. Ordinarität, Trivialität,
Geistigkeit usw. Was wollen Sie übertragen?
Nach
Möglichkeit die Vorstellung des Komponisten-
Woher
wissen Sie was davon? Die Welt hat in 150 Jahren
bewiesen, daß sie es nicht verstanden hat. Das Siegfried-Idyll
unter Wagners Taktstock hat 30 Minuten gedauert,
unter Bernhard Haitink dauert es 12 Minuten. Sie
sprechen von derselben Sache. Alle haben übertragen.
Wagner auch. Ich nehme an, daß er mehr davon gewußt
hat. Was ist das? Ein Skandal! Was war Knappertsbusch
für ein Skandal! Man hat von ihm gesagt, er nähme
breite Tempi. Es waren nicht breite Tempi. Es war
Unmusik bis dorthinaus. Er hatte aber auch Momente
von Musik. Es stimmt. Nehmen Sie doch eine Haydn-Symphonie.
Es ist ein Skandal. Er hat überhaupt keine Empfindungen
gehabt für das Verhältnis: vertikaler Druck - horizontaler
Fluß. Das ist schließlich das, was Musik ausmacht.
Furtwängler hatte eine enorme Persönlichkeit, aber
was hat er uns für eine Ecke Musik hinterlassen?
Nicht ein Takt ist zu übernehmen. Aber kann die
Musik so persönlich aufgefaßt werden? Ist da nichts,
was den Menschen übertrifft? Geht sie nicht über
das, was Sie sind, was ich bin und sogar, was der
Komponist ist? Ich meine doch. Denn, das Traurige
in einem Mozart-Andante ist nicht Ihres und ist
nicht meines. Das ist auch nicht einmal Weltschmerz.
Es ist darüber.
Aber
wer kann es dann heute realisieren?
Sicher nicht die Leute, auf die Sie gesetzt haben. Todsicher nicht. Nicht Mehta und nicht Maazel, und wie sie alle heißen. Was die machen, ist außerhalb jeder Form von Musik, das ist Notenvirtuosität.
Es
kann dann nur noch heißen: Celibidache.
Um
Gottes Willen, ich spreche nicht von mir, ich habe
schon so angefangen. Ich sage nicht, daß ich es
kann. Ich sage nur, daß das, was ich höre, nicht
Musik ist. Sie müssen mir sagen, ob das, was ich
mache, für Sie Musik ist. Wenn es soweit ist. Sie
sind aber dazu nicht in der Lage, denn wir müssen
zusammenleben, zwei, drei Jahre, bis wir über die
Noten hinwegkommen. Ob das zu machen ist, wird sich
zeigen. Ich habe über 6000 Schüler gehabt in diesem
kurzen Leben, ich habe nicht einen gehabt, der die
Geduld, die Bescheidenheit und den Fanatismus hatte,
wirklich durchzuschauen, was das alles ist. Also,
es ist eine Bilanz, die ziemlich negativ ausfällt.
Dann
sind Sie eigentlich ständig am Verzweifeln.
Nein,
um Gottes willen, ich bin sehr realistisch., Ich
verzweifle nicht, die Welt ist nun mal so. Wenn
ich sie gemacht hätte, wäre ich sicherlich verzweifelt.
Ich bin aber ganz unschuldig. Nicht meine kleine
Welt kann ich besser gestalten. Was soll ich mit
der großen Anfangen.
Wenn
Sie auf Ihre eigene Dirigentenkarriere zurückblicken
und jetzt noch einmal starten würden, würden Sie
etwas ganz anders machen?
Ja, den allerersten Anfang. Zum Beispiel die Berliner Zeit. Natürlich, da habe ich irgendwie intellektuell und theoretisch gewußt, daß Musik nicht so ist, daß sie nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab’s aber nicht gekonnt. Bis einmal ein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: “Du bist ein Idiot”.
Wer
war das?
Ich
würde es Ihnen nicht sagen. “Du bist ein Idiot,
ich habe meine Zeit mit dir und mir vertan”. Und
was tat ich: ich reiste nach Amerika, und die ganze
Welt sprach von den ungeheuren Erfolgen des jungen
Celibidache. Ich habe irgendwie gespürt, er
hat recht. Nicht die anderen. Denn man hat mir praktisch
die Krone von Toscanini angeboten, als ich 1949
in Berlin war. Ich habe nein gesagt. Damals war
dieser Schock noch nicht da, das kam er 52. Und
durch diesen Mann habe ich alles verloren, was ich
hatte, und doch habe ich mich nicht als arm betrachtet.
Er sagte mir, fange wieder mit ganz kleinen Formen
an,. Was meinte er? Es ist ein Gefühl, das man in
der Philosophie das “Bewußtwerden” nennt, im Unterschied
zum “Bewußtsein”. Nicht greifen, sondern ständig
bewußt werden. Und in jedem Augenblick wissen, wo
man sich befindet. Ich muß das Cis empfinden in
Beziehung zu der Reihe und der Kombination von Intervallen,
die bis zum Cis geführt haben. Denn sie sind in
diesem Cis enthalten. Und so ist auch die Zukunft
von diesem Cis in ihm enthalten. Also muß ich in
der Vergangenheit empfinden und in der Zukunft.
Aber wo? In der Gleichzeitigkeit! Das heißt Bewußtwerden
und nicht nach dem Bewußtsein greifen,
Herr
Celibidache, konnten Sie in dieser Zeit, dieser
Krise, eigentlich überhaupt noch dirigieren?
Na
- dirigieren konnte ich schon. Aber natürlich nicht
in diesem Sinne. Da habe ich mich mit ganz kleinen
Formen beschäftigt, u.a. mit der Tafelmusik von
Telemann. Und meine ganze Aufmerksamkeit war dahin
gerichtet, die allgemeine Form aus dem einzelnen
zu empfinden. Und nach zwei Jahren habe ich dann
meinen Professor wieder eingeladen und er sagte:
“Ja, jetzt sehe ich schon, daß Du darauf achtest,
das wird schon werden.” Und dann später habe ich
in der Staatsoper dirigiert. Er war wieder dabei
und sagte: “Ja, ich habe gewußt, daß Du hinkommst”.
Also, das war’s.
Ich
glaube, es war Heinz Thiessen. Wir brauchen kein
Geheimnis daraus zu machen. Und das ist ein Mann,
der Ihnen doch sehr am Herzen liegt. Unter anderem
haben Sie zu seinem siebzigsten Geburtstag ein Konzert
in Berlin dirigiert.
Ja,
das habe ich gemacht.
Können
Sie noch etwas von der Zusammenarbeit mit Heinz
Thiessen sagen? Haben Sie an ihm auch seine Kompositionen
bewundert?
Ja,
selbstverständlich. Das war so ein Einzelgänger
und ein sehr bescheidener Mensch - aber von einer
ganz hohen Geistigkeit. Von ihm habe ich verschiedene
Sachen, ich möchte direkt sagen, geerbt. So zunächst
das Alles-für-sich-Behalten, obwohl das mit meiner
Art und mit meinem kämpferischen Geist gar nicht
zusammenpaßt. Von ihm habe ich gelernt, doch auf
alles zu verzichten, was nicht in meinem Griffbereich
liegt.
Sie
hatten Kompositionsunterricht bei ihm?
Ja.
Und
das Dirigieren haben Sie auch von ihm gelernt damals?
Nein,
gar nicht. Das habe ich von Walter Gmeindl gelernt,
aber nur theoretisch. Wir hatten im Krieg kein Orchester,
mußten Partituren analysieren und doch viel wissen
über die Technik der Zeit: Wie die technische Einstellung
unserer Zeit diese Werke beurteilt und auseinandernimmt,
was aber für den musikalischen, den phänomenologischen
Sinn überhaupt keine Bedeutung hat., Wir haben alle
Harmonie studiert, Kontrapunkt, aber keiner hat
uns gesagt, wie denn die Klangmasse verläuft und
was die Spannung macht, wenn ich von G-Dur nach
D-Dur gehe.
Sie
sind 1946 Chefdirigent des Berliner Philharmonischen
Orchesters geworden. Wie kam das?
Ja,
das war so: Leo Borchard starb und ich wurde vom
Orchester eingeladen, ein Konzert draußen in Zehlendorf
zu dirigieren.
Sie
hatten vorher nie dirigiert?
Nein,
aber - doch ich habe in der Schule so ein bißchen
dirigiert, aber ein Orchester nicht. Die Philharmoniker
haben mir ein Konzert gegeben und nach diesem Konzert
war also ein guter Eindruck da. Ich glaube auch,
die Hauptsache war, daß die Deutschen, die einen
Namen hatten und wahrscheinlich viel mehr konnten
als ich, damals politisch belastet waren., Und ich
war politisch eine Jungfrau. So haben sie dann mich
gewählt und von den Amerikaner bestätigen lassen.
Dann bin ich bis 1952 in Berlin gewesen.
Sie
wollten ja später ganz fraglos der Nachfolger von
Wilhelm Furtwängler werden. Sie sind es nicht geworden-
Gar
nicht - Es ist gar nicht wahr, daß ich das wollte.
Ich wollte nicht Nachfolger von Furtwängler werden.
Keiner kann Nachfolger von Furtwängler sein. Und
als dieses Problem kam, da habe ich so viel Böses
in Berlin in mich aufgenommen, daß ich wirklich
nicht geblieben wäre. Und das war auch meine Rettung.
Denn die Berliner haben gegen mich gekämpft aus
ganz verschiedenen Gründen. Und ich habe auch nicht
ruhig einkassiert, sondern zurückgeschlagen.
Ich
kann Ihnen aufgrund des Einblicks in die Presse
von damals das nicht bestätigen. Man hat bestimmte
Dinge von Ihnen kritisiert...
Lassen
Sie-, lassen Sie das sein -, die haben doch nichts
von mir verstanden.
Das
mag sein, aber man hat Sie in Berlin doch sehr geliebt
und hat eigentlich später noch-
-aber
nicht die Presse und nicht der Senat und weiß ich
was für Autoritäten. Die haben da irgendwo einen
gesehen, der sich großmachen möchte, und das war
gar nicht der Fall. Denn ich habe gekämpft wie ein
Wahnsinniger, daß Furtwängler entnazifiziert wurde.
Und das war mein Stolz, ihm zu sagen, Herr Doktor,
hier dies ist Ihr Orchester. Nie habe ich die Absicht
gehabt, mit ihm zu konkurrieren, nie im Leben. Wenn
er ein anständigerer Mensch gewesen wäre, wäre heute
noch die Situation da. Ich habe gesagt, Herr Doktor,
was möchten Sie machen? Doch mir sagte er das eine,
und dem Senat sagt er etwas ganz anderes. Und da
kam es zu Reibereien, ihm war vieles nicht recht,
was mit mir geschah, und er hat angefangen, schlecht
über mich zu sprechen. 1952 habe ich mich entschlossen,
doch das alles liegenzulassen und woanders zu sehen,
wie ich weiterkomme. Dann ging ich nach London und
Italien. Aber, Sie sagen, daß die Berliner mich
geliebt haben, - das stimmt. Und Sie sind vielleicht
nicht im Bilde. Ich bin kein Deutscher, aber ein
Berliner. Und ich kämpfe miserablerweise auch heute
noch um mein Visum. Ich muß für jeden neuen Besuch
in Europa oder in einem anderen Staat vier Wochen
vorher einen Antrag stellen, weil ich einen Berliner
Paß habe., Und ich kämpfe weiter mit diesem Berliner
Paß. Es ist doch ein Kinderspiel, Franzose in 24
Stunden zu werden, Amerikaner in einer Stunde oder
Deutscher. Nein - ich bleibe Berliner. Auch wenn
das für mich so schwer ist, alle zwei Jahre bei
den Berliner Behörden anzufragen, ob ich weiter
einen Berliner Paß haben darf. Und ich bin glücklich,
daß ich das darf. Und ich stehe Berlin sehr nahe.
Ich liebe die Berliner. Ich habe sie in der
Not erlebt, und ich kann mir keinen besseren Menschenschlag
vorstellen. Sie haben das letzte Stück Brot im Kriege
mit mir geteilt. Das ist doch einmalig. Was war
ich denn 1944. Ein dreckiger Rumäne, und doch, wo’s
um Leben und Tod ginge, da haben sie mich geschätzt,
ernährt und gewaschen. Ja, aber es gibt nicht nur
solche Menschen in Berlin, es gibt auch andere.
Es gibt auch neugewordene Berliner, die mir, als
die Philharmonie eingeweiht wurde, eine gedruckte
Einladung und eine Zahlkarte geschickt haben, um
einen Platz für die Eröffnung der Philharmonie anzumelden.
Das sind auch Berliner, sehen Sie., Aber von
denen will ich nichts wissen. Und wenn ich heute
nicht in Berlin dirigiere, so ist es einfach nur
aus diesem Grund. Ich habe keine Zeit mehr, freie
Konzerte zu dirigieren. Auch die Wiener Philharmoniker
habe ich dirigiert. Ein mittelmäßiges Orchester,
Ich kann mit ihnen nichts anfangen. Sie sind ein
Mezzoforte. Sie verstehen gar nicht, was Struktur,
was natürliche Ordnung der Instrumente, wie der
Klang ist. Und dazu noch haben Sie auch kein Interesse.
Denken Sie, es ist Orchester, wo in einer Mozart-Symphonie
Sprünge legalisiert sind für alle Zeiten - bei Mozart!
Denken Sie! Und so ein Orchester macht mit einem
großen Dirigenten zwanzig Mozart-Symphonien, wobei
der nicht ein einziges Mal den Mund geöffnet hat.
Das ist Musik für sie heute, nicht für mich. Ich
habe keine Zeit, mich mit einem Orchester so zu
beschäftigen. Wo ich hinkomme, mache ich zwei Perioden
im Jahr, ohne Generalmusikdirektor zu sein: drei
Wochen im Herbst, drei Wochen im Frühjahr. So kann
ich über die Entwicklung des Orchesters irgendwie
Bescheid wissen und viel dazu tun. Auch einzelne
Konzerte gebe ich nirgends.
Sind
Sie außer mit dem Südfunk-Orchester auch noch mit
anderen Orchestern verbunden?
Ja,
hauptsächlich arbeite ich mit dem Orchestre National
de l’ORTF in Paris und mit den Stuttgartern. Und
ich muß sagen, in allen beiden Fällen ist eine derart
gewaltige Entwicklung zu beobachten, das ist direkt
beängstigend.
Warum
ist das beängstigend?
Weil
ich schon auf diese Indifferenz der Zeit, auf diese
Mittelmäßigkeit und die Ignoranz auf jedem Gebiet
eingestellt war. Wieso kann man noch so schön in
Stuttgart musizieren? Da muß ich mein ganzes Credo
noch mal revidieren. Also mit 62 Jahren ist das
doch beängstigend.
Liegt
das nur am Orchester oder auch am Publikum?
Nein,
das Publikum hat dabei überhaupt nichts zu sagen,
Es liegt an einem gesunden Menschenschlag, der sich,
Gott weiß wie, noch erhalten hat. Es ist mir nicht
sehr klar, warum. Die Begeisterungsfähigkeit, der
Respekt, der Ton in der Arbeit. Und ich schenke
denen doch nichts! Wir haben es glaube ich, in vier
Städten gelesen, daß sie nie die 4. Symphonie von
Brahms so gehört haben. Und ich muß es sagen, auch
ich denke so - nicht, weil ich es dirigiert habe,
sondern weil es vom Orchester so verwirklicht wurde.