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Ode an die Freude



Ernste Feier der Freude

 

Beethovens Neunte unter Sergiu Celibidache in der Philharmonie.
Süddeutsche Zeitung Karl Schumann

Die Freude - selten, selten ungetrübt und noch seltener von Dauer - ist wohl die ernsthafteste Sache der Welt. Dem vielstimmigen, doch verhaltenen Lobpreis dieses fast illusionären Lebenselixiers führte Sergiu Celibidache ruhig, gelassen, um jede Mittelstimme besorgt Beethovens neunte Symphonie entgegen. Kein Taumel, keine Schreie des Chores, kein exstatisches Fortefortissimo, keine Raserei am Randes des Vulgären. Beethoven im Bereich seiner letzten Streichquartette, Beethoven als Vollender des Prinzips vom “obligaten Satz”. Das Freudenparadies als freundliche Vision eines unerreichbaren Idealzustands, keineswegs als laute, immerwährende Kirchweih des Elysiums.

Plastische Mittelstimmen

Konsequent und mit einigem stolzen Eigensinn bezog Celibidache in der Philharmonie, deren tückische Akustik er bändigte wie weiland Orpheus die Furien, die vornehm-elitäre Gegenposition zu so ziemlich allem gängigen oder historisierenden Interpretationen, zumal gegen die Auffassung, in der Neuenten tobe sich ein monströses Delirium aus. Das (durchaus disziplinierte) Prestissimo blieb partiturgetreu bis zum Takt 851 des Finales aufgespart, und noch die letzten, häufig zu einem bloßen D-Dur Klang verwischten Takte sprachen thematisch.

Die Philharmoniker breiteten unter dem auffallend ruhig und sparsam geführten Taktstock ihres Chefs eine minutiöse Einstudierung aus, die in gelassener Gangart ein Maximum an Kontrapunkten und Mittelstimmen ans Licht brachte, von denen sich jeder und jede als thematisch-logisch erwies. Josef Schmidhubers Chor stellte Schönheit des warmen, runden Klanges (Soprane!) über die Massenwirkung, brachte ein volles, samtiges Piano und klang in den gefährlichen Passagen der Maestoso Abschnitte betont ernst und frei von bierseligem Gesangsverein-Pathos. Der Eintritt der Singstimmen, die vielberedete Liaison  des Symphonischen mit dem Wort, vollzog sich organisch; Sergiu Celibidache machte deutlich, dass ja das sozusagen absolut-musikalische Geschehen der Variationen längst im Gange ist, ehe das Vokale als zusätzliche Explikation der Grundidee hinzutritt.

Strikt gedämpft

Leider blieb im Vokalquartett einiges matt. Peter Lika über eine satte Baßbaritonstimme und volltönende Höhe verfügend, disponierte seinen Atem etwas zu kurz. Die baritonale Tenorstimme von Siegfried Jerusalem brachte spärlichen Glanz in die B-Dur Episode, deren “tückisches” Instrumentarium Celibidache strikt dämpfte, so dass es als Klang-Aura, nicht als kolonistischer Effekt wirkte. Doris Soffel gehört zu den wenigen Altstimmen, die sich im Soloquartett der Neunten zu behaupten wissen. Den Höhepunkt setzte Helen Donath, anmutig weich, unforciert und mit seraphischen Sopranklang.

In unseren des unkontrollierten Ausstoßes von Musik verwirklichte Sergiu Celibidache ein von der ersten bis zur letzten Note durchdachtes und in sich konsequentes Konzept, gegen das sich im einzelnen manches einwenden lässt, das aber als Ganzes nicht nur imponiert, sondern zum Nachdenken über die Neunte auffordert. Zuerst erwies Celibidache mit sanften Nachdruck darauf, dass kaum einer mit den Forderungen nach Forte oder gar Fortissimo so zurückhaltend umgegangen ist wie Beethoven. Das beschwor mitunter einige Spannungslosigkeit hervor, einige edle, geschmäcklerische Mattheit, etwas in den Variationen des Andante-Themas aus dem langsamen Satz. Mitunter trat die Musik in leicht anämischer Schönheit auf dem Fleck.; die ach so schönen Augenblicke verweilten, in seligen Selbstgenuss versunken, und man freute sich dabei ausgiebig an der Tonreinheit der ersten Geigen wie am runden Klang der Holzbläser. Orchestrale Perfektion allenthalben.

Die Neunte enthält eine heimtückische Passage. Zu Anfang des Schluss-Satzes werden die Themen der vorausgegangenen Sätze rekapituliert. Dabei zeigte sich, dass Celibidaches Tempi nicht sonderlich schroff voneinander abgesetzt waren. Im ersten Satz, wo sich eingangs die Entstehung eines Themas ergibt, lag der Ton mit gutem Grund auf dem mahnenden “ma non troppo” , was Celibidache ermöglichte, das zweite Thema mit einem beredten Acellerando einzuführen und zugleich zuintensivieren.

Das Scherzo, ein Unmutsausbruch, gab sich zurückhaltend; lediglich die Pauke durfte unwirsch sein. Die Vorherrschaft des Rhythmus schien geschmälert, das Metrum parzelliert. Allerdings kam die Zurückhaltung des Molto vivace dem Ton zugute, das sich in der Tat im Presto ereignete. Als in Schönheit schier ersterbende Kantilenen trat das Adagio mailto ein; eine in sich versunkene Gesangsszene. Die Dezenz in Tempo und Dynamik hatte - so elegisch sie im einzelnen wirkte - den klug über eine Stunde hin disponierten Zweck auf das Schlussziel, den Freudenhymnus hinzuleiten. Um diese Proklamation des elysischen Zustands erwies sich sodann als die beinahe lyrische Feier einer schönen Illusion. Sergiu Celibidaches Interpretation legte die Neunte vornehmlich jenen ans Herz , die bei ihrem dionysischen Appell skeptisch bleiben.

Überflüssig zu sagen, dass die Feier der verhaltenden Freude mit lautstarker Freude gefeiert wurde. Der Philharmonische Chor sah sich besonders gewürdigt als eine Vereinigung, die kantable Schönheit über den rohen Kraftausbruch setzt.