Sergiu Celibidache: Unzufrieden mit dem Mittelmaß
Letztes Konzert der Saison wurde zu einem großen Triumph
Von unserem Mitarbeiter Jürgen Hiller (Pforzheimer Zeitung)
Zu einem Triumph ohnegleichen wurde das letzte Mietkonzert dieser
Saison für das Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart und seinen
Dirigenten Sergiu Celibidache. Mit einem maßgeschneiderten Programm,
das auch auf der zweiten Deutschlandtournee des Orchesters zu hören
war, Brahms' Zweite Sinfonie, Tschaikowskys Sinfonische Fantasie
„Francesca da Rimini" und Ravel's „Bolero", setzte Celibidache einen
weiteren Meilenstein in der so erfolgreichen Geschichte des
Orchesters.
Das Erfolgsgeheimnis Celibidaches liegt darin, dass er seine
hochsensible Klangphantasie mit Überzeugung, Beharrlichkeit, mit
Energie und unbestechlichem Gehör bei hundert Musikern ausnahmslos
durchzusetzen vermag und zugleich deren Fähigkeiten zur vollen
Entfaltung bringen kann. Seit er das Orchester in zwei all
jährlichen Arbeitsperioden betreut, hat es sich rapide verändert.
Diesen Reifeprozess können die Hörer derzeit mit höchstem Genuss
miterleben. Schon früh wurde seine außergewöhnliche Veranlagung
sichtbar: seine Partitur-Beherrschung, sein Gedächtnis, seine
hochsensible Musikalität und seine leidenschaftliche Unzufriedenheit
mit allem Mittelmäßigen. So wurde man auch in Berlin auf Celibidache
aufmerksam und ernannte ihn 1945 zum Chefdirigenten der Berliner
Philharmoniker, die damals ohne Leiter dastanden.
Auch in früheren Jahren, wo er hauptsächlich in Mittelamerika und
Schweden tätig war, kam er immer wieder zum
Südfunk-Sinfonieorchester nach Stuttgart, wo man mit seinen
Eigenheiten vertraut war, seinen für den Konzertalltag
ungeheuerlichen Forderungen nach zehn oder mehr Proben entsprach und
sich auf die Delikatessen seines Musizierens freute. So entstand die
heute erreichte Freundschaft. Wenn Celibidache sagt: „Wir gehören
zusammen"! Dann meint er bestimmt das Zusammenwachsen durch die
Mitverantwortung jedes einzelnen Musikers am gemeinsam erreichten
Erfolg. Doch zurück zum Konzert.
In seiner zweiten Sinfonie zeigte sich Brahms von der idyllischen
Seite, doch fehlen auch hier nicht die menschlich er schütternden
und tragisch anmutenden Partien. Celibidache war hier, wie immer,
auf höchste Perfektion bedacht und hielt sich streng an die
Partitur. Er verzauberte das Allegretto grazioso zu einer
genießerischen Serenade.
Tschaikowskys sinfonische Fantasie nach Dantes „Göttlicher Komödie",
ein unerhört schwieriges Werk, da es an ein gängiger Musik fehlt,
war eine Herausforderung für Celibidache, er zerpflückte die
mosaikartigen Programmblöcke und vermochte sie aufs Feinste zu
veredeln. So gelang das herrlich intonierte Liebesthema genau so
übertrefflich wie das Pauken- und Blechinferno am Schluss.
Zum Schluss stand Ravels „Bolero" auf dem Programm, in dem er das
ostinate Prinzip zu höchster Vollendung führte. Celibidache führt
hier seine Musiker ins Überdimensionale. Mit schlafwandlerischer
Sicherheit steigerte er das Bolero-Thema in einem ununterbrochenen
Crecento vom zart angedeuteten Pianissimo bis zum wildesten
Fortissimo, das er mit weit ausholendem Kreisschlag entfachte und in
einem gewaltigen Abbruch die Erlösung fand.
Als das Publikum dann vor Begeisterung zu rasen begann, legte der
Maestro zur Glättung der Wogen das zarteste Stück aus Ravels „La
Valse" als Dreingabe auf und abschließend mit viel Wiener Charme die
„Tritsch-Tratsch-Polka" von Johann Strauß.