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Der Maestro



Der Musikjournalist Christoph Schlüren


setzt sich in verschiedenen Artikeln mit Maestro Celibidache auseinander.

Schlüren, Jahrgang 1961, studierte u.a. bei Sergiu Celibidache und arbeitet als freier Autor und Musikjournalist für bekannte Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Bayerischen Rundfunk.

Wir treffen uns, wo Anfang und Ende zusammenfallen

Portrait Sergiu Celibidache, Ein Berg ist kein Tal
Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt
Zum Tode von Sergiu Celibidache
"Musik ist nicht"
Sergiu Celibidache
Zum Tode von Sergiu Celibidache und Rafael Kubelik
Der Gleiche und nicht der Gleiche
Celibidaches abermalige Rückkehr
Bruckner dauert nicht
Zu den Münchner Bruckner-Aufnahmen Sergiu Celibidaches
Festschmaus im Orkus des Gegenwartsbejahenden
Schnöder Verrat oder frohe Botschaft?
Ein Regenbogen für Celibidache
Portrait-Film von Serge Celebidachi
Perahia über Celibidache


Wir treffen uns, wo Anfang und Ende zusammenfallen
Portrait Sergiu Celibidache, Ein Berg ist kein Tal


Das Vermächtnis Sergiu Celibidaches ist gebrochen. Es bestand unter anderem in seiner unversöhnlichen Ablehnung der Schallplatte, der Unzulänglichkeiten bei der Wiedergabe konservierter "Musik". Sein Sohn Serge Celibidachi, dem die Welt auch den hinreißenden Film "Der Garten des Sergiu Celibidache" verdankt, arrangierte sich schon bald nach Celibidaches Ableben mit der Firma EMI, welche inzwischen zwei umfangreichere Editions-Boxen Celibidaches mit seinem letzten Orchester, den Münchner Philharmonikern, herausgebracht hat, die weltweit reißenden Absatz fanden: Eine gemischte Sammlung mit Symphonischem von Haydn bis Bartók und eine reine Bruckner-Box. Noch bevor die EMI ihre Münchner Editionsreihe mit sämtlichen Beethoven- und Brahms-Symphonien im Mai abschließt, hat nun die Deutsche Grammophon ihrerseits eine Celibidache-Edition begonnen, die ca. 60 CDs umfassen soll. Zum Auftakt erschienen die Symphonien von Johannes Brahms mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, live aufgenommen vom Süddeutschen Rundfunk in den siebziger Jahren. Die Münchner Philharmoniker waren (nur!) unter Celibidache ein absolutes Spitzenorchester und vermochten nach langjähriger Arbeit mit ihm Leistungen zu erbringen, hinter denen die Stuttgarter Ergebnisse bei Beethoven, Brahms oder Bruckner zwangsläufig zurückbleiben mußten. Nicht so übrigens im französischen Repertoire, wo die Stuttgarter über mehr Leichtigkeit und Flexibilität verfügten – hier darf man von deren künftigen Veröffentlichungen einiges erwarten. Die Deutsche Grammophon aber wird mit Celibidache nicht nur weitere Stuttgarter Aufnahmen auf den Markt werfen, sondern voraussichtlich auch solche aus Stockholm, Kopenhagen, Paris, Berlin, Italien und – aus der Menge dessen, was die EMI übrig gelassen hat – München.

Als Sergiu Celibidache am 14. August 1996 starb, hatten die landauf, landab hochgehaltenen Ideale der "Interpretation" für ihn schon seit Jahrzehnten keine Bedeutung mehr, standen vielmehr ganz lapidar der Realisierung des dem Werk innewohnenden dynamisch-lebendigen Formprozesses im Wege. Denn an dem "ist nichts zu interpretieren. Erkenne ich, worauf es ankommt, so habe ich gar keine Wahl, kann nicht mehr so oder auch anders gehen, sondern nur noch so und nicht anders. Im musikalischen Geschehen ist nichts statisch, und insofern ist das folgende Bild unzureichend, ja irreleitend wie jede Vergegenständlichung: aber wenn Sie durch eine Landschaft gehen, können Sie doch nicht aus einem Berg ein Tal machen. Der Berg ist da, und wenn der Weg darübergeht, müssen Sie eben drüber. Was könnte man daran interpretieren? Die Topographie ist unabwendbar gegeben. Die Art, wie Sie diesen Weg gehen, hängt natürlich von Ihnen ab - Sie tun es so, wie Sie es können. Aber jede Landschaft hat doch ihre einmalige Beschaffenheit, für die anderen wie für Sie. Also: wie kann ich ein Ritenuto machen, wenn der Satz ein Accelerando fordert? Und wie kann ich einen Sturm entfachen, wo Ruhe herrscht? Die Idee der Interpretation, vom 'genialen Interpreten', von der persönlichen Auslegung ist nur Dokument persönlicher Armut, von Ignoranz, Anmaßung und Eitelkeit." Der solch radikale Haltung vertrat, konfrontierte auch mit radikalen Resultaten. Celibidache hat nie den Erfolg, die Karriere gesucht - etwas kam auf ihn zu, und er nahm es an und versuchte, das Beste daraus zu machen.

Sofort nach Berlin kommen!

Sergiu Celibidache wurde am 11. Juli (nach dem damals im Bereich der Ostkirche gültigen julianischen Kalender am 28. Juni) 1912 im moldawischen Teil Rumäniens, in Roman in der Nähe von Jasi, geboren. Sein Vater, Offizier und Präfekt des Distrikts, hatte sich, als er die Überbegabung seines Sohnes sah, in den Kopf gesetzt, daß dieser einst rumänischer Staatspräsident würde. Als der junge Sergiu sich stattdessen gänzlich für die Musik entschied, mußte er sein Zuhause verlassen und verdiente sich als Pianist in einer Bukarester Tanzschule den Lebensunterhalt. Da hörte er eines Tages im Radio ein Streichquintett von dem Komponisten Heinz Tiessen aus Berlin und war so überwältigt, daß er gleich selbst ein Quintett schrieb und die Partitur an Tiessen schickte, dessen Antwort umgehend, knapp und eindeutig lautete: "Sofort nach Berlin kommen!"

1936-45 studierte Celibidache in Berlin Komposition und Dirigieren (bei Walter Gmeindl) an der Musikhochschule, zudem Musikwissenschaft (bei Arnold Schering und Georg Schünemann) und Philosophie (bei Eduard Spranger und Nicolai Hartmann) an der Universität. Sein wichtigster Lehrer war freilich Heinz Tiessen (1887-1971), der auch den großen Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann in Komposition unterrichtete. Für Celibidache wurde der strenge und geistvolle Ostpreuße zum musikalischen Mentor, der seine Sinne für Form als organisch Zusammenhängendes, tonal Ausgehörtes schulte. Tiessen selbst gehörte bis in die frühen dreißiger Jahren zu den führenden Tonsetzern des deutschen Expressionismus und suchte in undogmatischer Weise von Richard Strauss ausgehend eine freitonale 'Neue Klassizität' zu begründen. Während des Nationalsozialismus verstummte er als Schaffender fast völlig, um nach dem Krieg abseits der modischen Strömungen umso nachhaltiger vergessen zu werden.

Celibidache sah sich während der Studienzeit primär als Komponist, jedoch müssen die Auftritte als Dirigent - in kleinem Rahmen, zum Beispiel mit Bachs Brandenburgischen Konzerten, innerhalb der Hochschule - von größter Eindringlichkeit gewesen sein, notierte doch Heinz Tiessen schon im Dezember 1944 als "meine Lieblingsdirigenten: Celibidache, Furtwängler, früher Strauss und Nikisch." Ein Anfänger, ein 'Niemand' stand für diesen Unbestechlichen an erster Stelle, zusammen mit den ganz großen deutschen Dirigenten!

Nach Kriegsende, im August 1945, schrieb die sowjetische Besatzungsmacht einen Dirigierwettbewerb am Pult des Berliner Rundfunk-Symphonieorchesters aus, an dem Celibidache auf Drängen Tiessens teilnahm. In seiner Aufregung hielt der 33jährige eine "Terror-Probe" ab, die die Musiker restlos forderte, und der 'Niemand' gewann den Wettbewerb. Als dann am 23. August Leo Borchard, Stellvertreter des gesperrten Furtwängler, irrtümlich von einem Besatzungs-Soldaten erschossen wurde, holten die Berliner Philharmoniker in ihrer Not Celibidache. Das erste gemeinsame Konzert fand am 29. August statt, mit Dvoráks Symphonie 'Aus der Neuen Welt', und im Dezember wurde der Rumäne als "politische Jungfrau" zum 'Lizenzträger' der Berliner Philharmoniker ernannt. Anfang 1946 wählte ihn das Orchester zum Chefdirigenten bis zur Rückkehr Wilhelm Furtwänglers. Die Leistung, die der junge Dirigent aus dem Stand vollbrachte, ist unermeßlich: neben der künstlerischen und organisatorischen Verantwortung und der bedingungslosen Unterstützung des angeschlagenen Furtwängler in dessen 'Entnazifizierungs'-Verfahren waren dies vor allem 108 Konzerte in der ersten Saison, 128 in der zweiten - zunächst alles Erstaufführungen für den Unerfahrenen, darunter tatsächlich eine stattliche Zahl Ur- und deutsche Erstaufführungen, oft von bis dahin 'Entarteter Musik'. Dieses Pensum konnte nur mit absoluter Unbeirrbarkeit, Hingabe und Disziplin bewältigt werden, und Celibidache dürfte sich in jener Zeit jene 'eiserne Haut' zugelegt haben, die alles, was ihm unwesentlich oder als falsche Fährte erschien, abprallen ließ und in ihrer unerbittlichen Härte manch zahmeren Zeitgenossen in Angst und Schrecken versetzte.

Kometenhaft war sein Aufstieg, von "stupender Kontrolle", "wilder Besessenheit", "dämonischem Ausdruckstanz" und "bezwingendem Charisma" berichten begeisterte Zuhörer. Celibidache selbst hielt später nicht mehr viel von seinem damaligen Tun: "Natürlich habe ich irgendwie gewußt, daß Musik nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's aber nicht gekonnt. Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: 'Du bist ein Idiot'."

Musik ist nicht

Aus den vom Kriegsdesaster mitgenommenen Philharmonikern schmiedete er wieder einen Top-Klangkörper. Celibidaches zentrale Motivation war, das Orchester baldmöglichst in erstklassigem Zustand an den gesperrten Furtwängler zu übergeben. Ab Mai 1947 dirigierte er Seite an Seite mit dem rehabilitierten Furtwängler, dem er die erste entscheidende phänomenologische Einsicht seines Lebens verdankte. Da hatte er ihn gefragt, wie schnell es denn an einem bestimmten Übergang weitergehe, und von Furtwängler die verständnislose Antwort erhalten: "Je nachdem, wie es klingt." Der Musiker Furtwängler war überragendes Leitbild bis hin zur 'Traumatisierung': "Er hat wie kein anderer die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem Fluß gehört und realisiert" - Tempo also nicht als etwas Feststehendes, sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen zusammenschließende Bedingung, die jedesmal neu und einmalig gegeben ist! Von dieser Initialentdeckung nahm die "Musikalische Phänomenologie" - entwickelt auf der Grundlage der philosophischen Methodik Edmund Husserls - ihren Ausgang, die Celibidache bis zuletzt Tausenden von Schülern nahezubringen versucht hat: eine Wissenschaft davon, was dem Musizieren im Wege stehen kann, eine Wissenschaft vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem Erkennen verschlossen. Was ist Musik? "Musik ist nicht der Klang. Musik ist überhaupt nicht, hat keine Daseinsform. Ein solches Dasein hat der Klang, dessen Wesen Harmonie ist, dessen Schönheit uns anzieht. Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang."

Was die Gründe dafür waren, daß Furtwängler seinem Statthalter nicht die gleiche Rückendeckung gab wie dieser ihm, ist nicht bekannt. Jedoch traf Celibidaches Art, den Musikern immer uneingeschränkte Hingabe abzufordern, bei vielen auch auf zunehmenden Widerstand. Während er sich zusehends andernorts profilierte (in Mittel- und Südamerika, beim Orchestra della Scala und beim London Philharmonic Orchestra), lebte er sich mit den Berliner Philharmonikern auseinander. 1952 wurde Furtwängler als Chefdirigent auf Lebenszeit verpflichtet, und als er 1954 starb, war der unbequeme Celibidache längst ins Hintertreffen geraten. Statt den Fanatiker musikalischer Wahrheit zurückzuholen, der inzwischen auch Schallplattenproduktionen grundsätzlich ablehnte, entschied man sich für den glänzenden Pragmatiker Herbert von Karajan. So wurde mit der Traditionslinie Nikisch-Furtwängler (für die Celibidache einstand) jäh gebrochen, jedoch marktstrategisch umso effektiver gehandelt - Musik als Ware mit scheinheiligem Heiligenschein. Am 27. November 1954 erhielt Celibidache das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, am 29. November dirigierte er zum letzten Mal - bis zum spektakulären, einmaligen Comeback im März 1992 - die Philharmoniker, und am 30. November starb Wilhelm Furtwängler.

Für Celibidache aber war nun nach 414 Konzerten mit den Berliner Philharmonikern kein Platz mehr in Berlin. Jedoch blieb er Berlin konsequent verbunden, indem er bis zur deutschen Wiedervereinigung lediglich über einen Westberliner Paß verfügte und keine andere Staatsbürgerschaft annahm.

Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt

Celibidache ging 27 Jahre lang, von 1952 bis zur Übernahme der Münchner Philharmoniker 1979, keine feste Bindung mehr ein und unterschrieb bis 1985 nie einen Vertrag. Dafür verdanken ihm etliche Orchester Höhenflüge, die vorher und nachher unerreicht blieben, frei nach der Devise: 'Es gibt keine guten und schlechten Orchester, es gibt nur gute und schlechte Dirigenten'. So leitete Celibidache in Italien die vier Orchester der Rundfunkanstalt Rai (in Milano, Torino, Napoli und Roma) und die Orchester der Mailänder Scala, der Accademia di Santa Cecilia in Rom, in Bologna und Florenz; das Symphonieorchester des Schwedischen Rundfunks; in Deutschland die Symphonieorchester des SDR in Stuttgart, des WDR in Köln, die Berliner Staatskapelle in Ostberlin, die Bamberger Symphoniker und die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz; im ungeliebten Wien Symphoniker und Philharmoniker; das Züricher Tonhalle-Orchester und das Schweizerische Festspielorchester in Luzern; das Symphonieorchester des Spanischen Rundfunks und fast alle führenden Orchester in Süd- und Mittelamerika; in Kopenhagen Anfang der sechziger Jahre die Königliche Kapelle, Anfang der siebziger das Dänische Nationale Rundfunk-Symphonieorchester; Mitte der sechziger Jahre das Finnische Rundfunk-Symphonieorchester; in den siebziger Jahren das Orchestre National de l'ORTF in Paris, das London Symphony Orchestra, das NHK-Symphonieorchester in Tokyo, das Staatliche Rumänische Symphonieorchester in Bukarest usw.

Vor allem die intensive Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Rundfunk-Symphonieorchester, die von 1962 bis 1971 dauerte, und mit dem Symphonieorchester des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart, die 1958 zaghaft begann, um 1970 immer regulärer wurde und 1982 im Schatten der Münchner Erfolge ausklang, prägte diese Orchester, weckte in den einzelnen Musikern die Bewußtheit über ihre Funktion im symphonischen Kontext, forderte nie nachlassende geistige Präsenz und ging unablässig an die Grenzen der Möglichkeiten aller Mitwirkenden. "Die Zahl der Proben hängt von der Qualität des Orchesters ab. Je besser ein Orchester ist, desto mehr Möglichkeiten bietet mir jeder Einzelne, um etwas zusammenzustellen." Also: Je fähiger die Ausführenden sind, desto weiter ist der Weg zum Ziel. Das konnte eigentlich kein Orchester auf die Dauer aushalten. War am Anfang stets der - durchaus positive - Schock, so war das Ende doch meist ein Ende mit Schrecken: Eklats, Zerwürfnisse, wütende Enttäuschung des Dirigenten über allfällige menschliche Schwächen, charakterliche Unzulänglichkeiten und 'Vertragsbrüchigkeit' von Intendanten und Agenten zogen den Schlußstrich unter fast jede heiße musikalische Liaison.

Was für einen eruptiven Eindruck der vulkanische Celibidache der rastlosen Wanderjahre allerorten hinterließ, davon zeugt eine Kritik von dem großen, damals 19jährigen Komponisten Pehr Henrik Nordgren, erschienen am 12. Juni 1964 nach Celibidaches erstem Auftritt mit einem finnischen Orchester: "Celibidaches musikalischer Zugang weicht von Bekanntem völlig ab. Er lebt intensiv in der Musik. Er ist souverän, was seine Schlagtechnik betrifft. Um etwas hervorzuheben, läßt er sich zu einem kräftigen Schlagen der Schuhabsätze hinreißen oder singt laut mit. Das Orchester gerät mit ihm in die gleiche Ekstase und auch der Zuhörer unterliegt der suggestiven Kraft und erlebt die Musik besonders stark: für den Verfasser war Celibidache das bisher größte Musikerlebnis.

Das Radio-Symphonieorchester hat bisher noch nie so gut gespielt wie in Celibidaches Konzert. Die Erklärung ist sehr einfach: Celibidache fordert mehr Proben als irgendein anderer Dirigent. Seine Anforderungen an die Musiker sind nahezu unmenschlich hoch angesiedelt... Nun haben wir einen klaren Beweis dafür, daß das Orchester durchaus das Potential besitzt, ein hohes internationales Niveau zu erreichen... Prokofjews Orchestersuite aus dem Ballett 'Romeo und Julia', welche gern im Rahmen von Konzerten aufgrund ihres populären und 'leichten' Inhalts gespielt wird, formte Celibidache in ein tiefsinniges Drama mit starken Spannungen um." Und zur zweiten Symphonie von Sibelius: "Celibidache erwies sich von Anfang bis Ende konsequent hinsichtlich der jugendlich brodelnden Intentionen des Tonsetzers. Er gab den pathetischen Ausbrüchen noch einen besonderen Schwung. Auf dem Weg zum Höhepunkt der Symphonie, dem triumphierenden Finale, baute er eine Steigerung mit unbeschreiblicher Stärke auf. Celibidaches Persönlichkeit hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck."

Weggefährten und Taschengarten

Unter den wenigen Solisten, die Celibidache als Partner ohne Einschränkung schätzte, müssen die Geiger Ida Haendel und Rony Rogoff und die Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli, Walter Gieseking und Murray Perahia unbedingt genannt werden. Insbesondere mit Michelangeli, für Celibidache "der größte Musiker des Jahrhunderts", verband ihn eine völlige Übereinstimmung jenseits aller Konventionalität, und Kenner wissen, was es heißt, wenn Celibidache nicht ohne Stolz sagen konnte, daß Michelangeli noch nie(!) ein Konzert mit ihm abgesagt hatte. Umso schmerzlicher traf ihn zuletzt der Tod des für seine Hörer scheinbar so Unnahbaren mit diesem "im besten Sinne entpersönlichten Spiel" - damit hatte er den wohl einzigen wirklichen Weggefährten verloren. Die Komposition einer Trauermusik für seinen verstorbenen Freund blieb Torso. Eine angemessene Würdigung des Komponisten Celibidache steht bis auf Weiteres aus. Außer der Orchestersuite "Le jardin de poche" (Taschengarten), die 1978 in Stuttgart für Intercord – als einzige Plattenaufnahme Celibidaches nach dem Brahms-Violinkonzert mit Ida Haendel von 1953 – eingespielt wurde, kam nur in München in inoffiziellen Kreisen ein Geburtstagsständchen aus seiner Feder zu Gehör. Alles andere blieb bis heute unaufgeführt, auch die Rumänische Suite in 8 Sätzen für großes Orchester, die lange Zeit zur Aufführung in München vorgesehen war. Celibidaches Stil ist, abgesehen von der exquisiten und neuartigen Orchesterbehandlung, von starker Eigenart in der völlig unkonventionellen Satzweise und Formung aufgrund verborgener Aspekte diatonischen Zusammenhangs. Extreme Komplexität entsteht auf der Basis äußerster Einfachheit.

Wollen Sie denselben Nachtzug nehmen?

Celibidache leitete in den achtziger Jahren das Studenten-Symphonieorchester des Curtis-Institute of Philadelphia und zweimal das Symphonieorchester der Orchesterakademie Schleswig-Holstein, formte jeweils einen Monat lang einen Haufen begabter, unerfahrener Individualisten zu einem orchestralen Ganzen mit unverwechselbarem Gesicht, dessen musikalische Resultate hinter denen seiner institutionalisierten Orchester nicht zurückstanden. Überhaupt: Als Lehrer wurde Celibidache zur legendenumwobenen Gestalt unter den Dirigenten dieses Jahrhunderts, hatte nach eigener Aussage 6000 Schüler. Kaum einer war darunter, dessen Entwicklung er letztlich positiv beurteilte – an Ausnahmen seien die Dirigenten Til Köster und Konrad von Abel, der Fagottist Peter Bastian, der Geiger Rony Rogoff und der Pianist Juan Chuquisengo genannt. Vielen stand sein maximaler Anspruch von vornherein im Weg, führte zu destruktiver Selbstkritik oder der Suche nach leichter begehbaren, karriereträchtigeren Wegen. Die Schüler der späten Jahre waren weitgehend auf theoretische Unterweisung und schlagtechnische Kontrollen angewiesen, hatten kaum Gelegenheit, mit ihm vor dem Orchester zu arbeiten - kein Forum also für eilige Aufsteiger in einer schnellebigen Zeit... Der Unterricht bei Celibidache war immer unentgeltlich, und manch mittelloser Student wurde von ihm jahrelang finanziell unterstützt.

Seine geistige Heimat fand der tiefreligiöse Wahrheitssuchende in einer konfessions- und konventionslosen Gewißheit, die er der Erfahrung der buddhistisch-hinduistischen Welt verdankte. So waren seine Kurse in "Musikalischer Phänomenologie", die ab den siebziger Jahren in Deutschland – zunächst in Trier, dann lange Jahre an der Mainzer Universität (einer regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte") und zuletzt in München und Paris – stattfanden, nicht nur für jene interessant, die mehr Wesentliches über Musik erfahren wollen: Philosophen, Physiker, Ärzte, Psychologen, Künstler anderer Sparten - sie alle wollten lernen von diesem Mann, der kein System vertrat, kein theoretisches Gebäude, dessen Vorgehensweise nur helfen konnte, aus der Zerstörung falscher Theorien, der Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus das freizulegen, was sich jeder Definition entzieht: das spontane Erleben, das Erfahren des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren.

Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser "Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde" mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß, wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben auf der Strecke blieb? Oder, in Celibidaches Worten (in einem Interview, das 1976 in der Zeitschrift 'Das Orchester' erschien): "Bevor ich einsteige, möchte ich gerne wissen, ob Sie, meine mir nahestehenden Menschen, von Liebhabern bis Musikwissenschaftlern, denselben Nachtzug nehmen wollen und ob Sie die gleiche dynamische Auffassung von Musik wie ich auf diese Reise mitnehmen; denn das Neubeleuchten der alten Landschaft und die Verdunkelung der neuen Kunststoffwälder hängen zum Teil davon ab."

Erfüllung eines Künstlerlebens

Am 14. Februar 1979 dirigierte Celibidache mit Bartóks 'Konzert für Orchester' zum ersten Mal die Münchner Philharmoniker, nach dem Ableben des Chefdirigenten Rudolf Kempe ein verwaister städtischer Klangkörper, der gefährlich an Profil verloren hatte. Im Juni 1979 nahm er die erste feste Stellung seit seiner Berliner Zeit an, wurde Generalmusikdirektor der Stadt München und Chefdirigent der Münchner Philharmoniker mit dem erklärten Ziel, das Orchester von der regionalen Stellung emporzuführen zur Klasse eines 'Weltorchesters'. Seine andernorts 'unerfüllbaren' Bedingungen wurden erfüllt: meistens mehr als eine Woche Probenzeit für ein Programm (auch bei Standardwerken), keine gleichzeitige Einstudierung anderer Projekte, keinerlei Studioarbeit oder Schallplatteneinspielungen usw. Einige Krisen, deren schwerste 1984 zur vorübergehenden Demission führte, konnten die angekündigte Entwicklung zum 'Weltorchester' nicht verhindern, die sich auch in äußeren Erfolgen niederschlug: Tourneeeinladungen aus aller Welt prasselten herein, man wünschte gar Bruckner-Aufführungen in Südamerika und ganze Bruckner-Zyklen in Japan; die Zahl der Münchner Abonnenten stieg auf mehr als das Doppelte an, die Generalproben vor den - immerzu - ausverkauften Konzerten waren oft hoffnungslos überfüllt; das Orchester wurde auf die höchste deutsche Besoldungsstufe gestellt. Vor allem die Japan-Tourneen wurden unvergleichliche Triumphzüge (Celibidache: "Die Japaner sind das beste, konzentrierteste Publikum der Welt."). Die Münchner Philharmoniker wurden unter ihm zum weltweit führenden Bruckner-Orchester mit der einmalig weichen, runden Klangfülle ihrer Blechbläser, der Fähigkeit des ganzen Orchesters, aufeinander zu hören und Transparenz auch bei maximaler Intensität zu bewahren, immer wach den Gesetzen der symphonischen Kontinuität zu folgen.

Zugleich aber hat Celibidache die Fachwelt extrem polarisiert wie alle überragenden Künstlerpersönlichkeiten zu allen Zeiten. Viele nahmen ihm die radikale Polemik gegenüber den von ihm als solche nicht akzeptablen 'Kollegen' übel ("Gilbert Bécaud vermittelt Empfindungen und auch Karl Böhm, wenngleich auch weniger feine"), erst recht die völlige Verachtung der Inkompetenz der Fachpresse ("Wieso 'Fach'? Wenn jeder das tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine Probleme.").

Das Ende im Anfang erleben

Die überbordende Impulsivität der früheren Jahre hatte Celibidache im hohen Alter zu unauslöschlichem inneren Feuer gebündelt. Bei seinem Musizieren koexistierten vollkommene Passivität und höchste Aktivität. Die vereinzelnde Dynamik der momentanen Empfindung erlangte nie die Oberhand, sein Bewußtsein blieb immer auf die Verwirklichung der Gesamtform als lebendiges Ganzes gerichtet, innerhalb dessen jeder Moment seine unerläßliche Funktion hat. Je komplexer dabei die Gesamtform ist, desto determinierter ist der einzelne Moment in seiner Ausführung - das gilt für Bruckner wie für Webern und stößt bei Letzterem auf eine empfindliche Grenze der Ausführbarkeit, denn die miniaturistische Ausformung der hochkomplizierten tonalen Beziehungen fordert eine höchst differenzierte Realisierung auf kleinstem Raum ein. Eine Woche Proben für einige Minuten Webernscher Orchestermusiken: Das wollte auch ein Celibidache seinen musikalischen Fahrgesellen nicht zumuten.

Bei diesem bezüglich des Gesamterlebnisses funktionalen Zugang zu jeder einzelnen klanglichen Situation ist es klar, daß zunächst beim Studium kein Unterschied gegeben ist, ob es sich nun um ein Werk von Frescobaldi, Mozart, Tschaikowskij oder um die bevorstehende Uraufführung eines neuen Werkes handelt. Der Unterschied entsteht erst mit dem Erleben der Beziehungen zwischen den angeeigneten Faktoren, und da soll der Studierende vollkommen in der Erlebniswelt des Komponisten in absichtsloser Hingabe aufgehen. Es soll nichts mehr zwischen dem Menschen und seiner Tätigkeit sein, der Musiker ist gleich einem Chamäleon in einer musikalischen Landschaft. So klangen Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Debussy, Sibelius oder Strawinskij nirgends spezifischer als unter Celibidaches Stabführung. Aus dem ganzheitlichen Zugang heraus versteht es sich von selbst, daß der Studierende die Partitur allmählich in sich zum Leben erweckt und nicht über den äußeren Höreindruck, am Klavier oder gar mit einer Aufnahme, sich aneignet. Und wenn er dirigiert, benötigt er von der ersten Probe an keine Partitur, wenn er die Details nicht mehr als Gedächtnisleistung abzurufen braucht, sondern aus ihrer Sinnfälligkeit im Gesamtzusammenhang heraus erlebt. Kein Wunder also, wenn Celibidache vor einer Uraufführung stets schon zur ersten Probe ohne Partitur kam, und wenn der Komponist hinterher bekannte, er habe gar nicht gewußt, "daß ein solcher Reichtum in meiner Partitur steckt".

Erste und letzte Aufgabe des Dirigenten ist, so Celibidache, "Einheit zu schaffen in jeder Beziehung". Konsequenterweise bedeutet das, daß es keinen Unterschied zwischen dem Anfang und dem Ende eines Stücks gibt. Es kehrt dorthin zurück, wo es herkam - zur ursprünglichen Ruhe: "Ich entferne mich - und komme näher." Für den Musizierenden reißt in keinem Moment die Gebundenheit an Anfang und Ende ab, wobei im Verlauf die Zugkräfte von unterschiedlicher Intensität sind. So ist zunächst alles auf den Höhepunkt zu gerichtet, und nach Erreichen dieses maximal gespannten Moments, der zugleich Wendepunkt des Geschehens ist, auf das Ende zu, also folglich zurück zum Anfang. Freilich besteht niemals eine der Tendenzen in sich, jeder extrovertierte Schritt impliziert seine introvertierte Ergänzung und umgekehrt. Der ganze Prozeß, der in der Zeit stattfindet, ist seinem Wesen nach außerzeitlich, spielt sich in der Gleichzeitigkeit aller involvierten Momente ab, in der Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende. Mozart sprach von jenem "alles auf einmal hören". Im Falle des Gelingens fallen Anfang und Ende zusammen, wobei es weder einen Anfang noch ein Ende gibt als für sich bestehende Punkte. Von dieser Warte aus ist zu verstehen, daß für Celibidache Bruckner der begabteste Symphoniker war: Keiner sonst war in der Lage, unter Aufbietung solch extremer Kontraste die Form noch zu beherrschen, das "Ende im Anfang" zu erleben. Die Münchner Philharmoniker waren das letzte Orchester, das unter Sergiu Celibidaches Leitung aufbrach, um solches Erleben allen unvoreingenommenen Hörern zu ermöglichen. Und "ganz selten ist uns das auch gelungen".

Heute werden an verschiedenen Orten mehr oder weniger ambitionierte Versuche unternommen, Celibidaches musikalisches Vermächtnis zu pflegen. Dazu ist die in Venedig ansässige "Scuola di Rony Rogoff" (deren herrlicher Live-Zyklus mit Brahms-Kammermusik soeben bei Mondo musica erschienen ist) ebenso zu zählen wie die von Celibidaches Assistent Konrad von Abel in Frankreich gegründete "Association des musiciens pour la perénnité de l’héritage musical de Sergiu Celibidache". Am dritten Todestag Celibidaches, dem 14. August dieses Jahres, soll zudem die Celibidache-Stiftung mit Sitz in München gegründet werden, deren finanzieller Grundstock sich aus den CD-Tantiemen rekrutiert. Die Stiftung wird mit der Umsetzung zweier Hauptanliegen betraut sein: mit Dokumentation und Lehre. Natürlich erhebt sich die Frage, ob es sinnvoll sein kann, den Anspruch auf die Bewahrung des musikalischen Erbes eines großen Verstorbenen zu erheben: Lehre aus zweiter Hand? Das ist eine äußerst heikle Zielsetzung, die ebenso frei von sektiererischer Einengung wie von ideeller Verwässerung betrieben werden muß. Von holdem Weihrauch umflorte Dogmen könnten vitale, weiterentwickelnde Ansätze ersticken. Aber es gibt sie, die "Erben Celibidaches": Man höre nur das Danish Wind Quintet um Peter Bastian, das niemals einen solchen Anspruch geltend machen würde, ihn aber nach 30jährigem Bestehen in unveränderter Besetzung umso bezwingend spielerischer einlöst. Musizieren ist Leben, nicht verharrendes Gedenken. Auch dafür stand – geradezu symbolisch in der positiven, nachhaltig aus dem Augenblick schöpfenden Überwindung aller Tradition – Sergiu Celibidache.

Christoph Schlüren
(veröffentlicht in Music Manual, 1999)

 

Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt
Zum Tode von Sergiu Celibidache


Siebzehn Jahre lang, seit 1979, hat Sergiu Celibidache - bis zu seinem Tod in der Nacht vom 14. zum 15. August in Nemours bei Paris - die Münchner Philharmoniker geleitet, hat sie zu Höhen geführt, die diesem Orchester bis dahin nicht zugänglich waren, und hat der ganzen Welt gezeigt, wie eine unverwechselbare Musizierkultur zu schaffen ist in Zeiten des Jetset, des oberflächlichen Starkults, knapper Probezeiten und ökonomischer Routine.

Unter seiner Leitung haben die Münchner vor allem die deutsche Symphonik systematisch erarbeitet; viele sehen in ihnen heute das weltweit beste Bruckner-Orchester. Über diese späte Erfüllung eines Künstlerlebens ist der Celibidache der sechziger und siebziger Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten. An seine furiose Berliner Frühzeit als dirigentischer Senkrechtstarter und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wurde immer wieder erinnert, war es doch beispiellos in der Geschichte, wie Celibidache nach dem Krieg in schwindelerregender Geschwindigkeit aus dem studentischen Nichts an die Spitze des Musiklebens empor drang und sich dort auf Dauer niederließ. Die Berliner liebten den fanatisch impulsiven, hochsensibel klangbewußten und von feuriger Magie beseelten Urmusikanten umgehend, und er forderte den Philharmonikern das Letzte ab - mit einer kompromißlosen Unbedingtheit, die bei aller Großartigkeit so sehr an Nerven und Kräften der Musiker zehrte, daß nach Wilhelm Furtwänglers Tod nicht Celibidache, der das Orchester wieder aufgebaut hatte, sondern Herbert von Karajan zum Chefdirigenten auf Lebenszeit gewählt wurde.

Celibidache kehrte Berlin maßlos enttäuscht den Rücken zu und ging den steinigen Weg über die musikalischen Provinzen des Erdballs. Auch sein musikalischer Zugang veränderte sich grundlegend, weg von äußerlicher Intensität und Feurigkeit, hin zur Erkundung des wahren Wesens der lebendigen Form: die Details haben nur in der Beziehung zueinander, als Funktionen einer organischen Ganzheit Sinn, die Länge eines Werkes ist einzig in der Gegensätzlichkeit der zueinander beziehbaren Gedanken berechtigt.

Celibidache fand künstlerische Gewißheit, und in seiner konsequenten Haltung schloß das die formale Zerrissenheit Gustav Mahlerscher Symphonien ebenso aus wie Aufnahmestudios - nichts kam ihm verkommener an als die Konservierung klanglich kastrierter Momentaufnahmen, die "Standardisierung des Hörens, die seelische Verarmung des Menschen". Immer wieder aufs Neue trieb Celibidache unterschiedlichste Orchester zu Höchstleistungen an, die grenzenlose Bewunderung fanden und auf Dauer nicht zu halten waren, so daß über zwanzig Jahre lang jede Zusammenarbeit im Desaster endete. So schrieb 1964 nach einem Helsinki-Gastspiel der Komponist Pehr-Henrik Nordgren: "Seine Anforderungen an die Musiker sind nahezu unmenschlich hoch angesiedelt... nun haben wir einen klaren Beweis dafür, daß das Rundfunk-Orchester das Potential besitzt, hohes internationales Niveau zu erreichen".

Die kontinuierlichste Zusammenarbeit ergab sich mit den Rundfunkorchestern in Stockholm und Stuttgart, wo, den Qualitäten der Orchester entsprechend, vor allem seine Aufführungen französischer, russischer und Neuer Musik als unerreicht galten. Nicht zuletzt Celibidaches wachsender Gelassenheit war es zu verdanken, daß er trotz heftiger Querelen in München blieb und dort das verwirklichte, was ihm andernorts auf Dauer verwehrt geblieben war. In den Augen vieler war er das größte dirigentische Genie unseres Jahrhunderts.

Christoph Schlüren
(Nachruf für 'Das Orchester')

 

"Musik ist nicht"
Sergiu Celibidache


Kritiker sind, was das eigene Ehrennäpfchen angeht, meist hochsensibel, auch wenn sie's woanders vielleicht gar nicht so sind. Celibidache hat für derlei Berührungsängste wenig übrig und ließ die Welt immer gerne wissen, was er von der über Musik schreibenden Zunft hält: "Musik hat mit Intellekt absolut nichts zu tun. Musik kann man nur erleben. Und in dieser Hinsicht ist jeder Kritiker überfragt... Wenn jeder das tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine Probleme." (in einem Interview mit der AZ). Wie nun die Fraktionen der Kritiker tief gespalten sind in ihrer Haltung zum Phänomen Celibidache, so ist es auch das übrige Publikum. Da stehen entrüstete Ablehnung und vorbehaltlose Begeisterung nebeneinander.

Nun haben ja große Künstler immer ihre Umgebung polarisiert. Was jedoch viele irritiert, ist der sogenannte Altersstil Celibidaches. Was ihm heute als Musiker vorgeworfen wird ("verschleppte Tempi, Mangel an Leidenschaft" usw.), hätte in den sechziger Jahren völlig absurd geklungen, im Gegenteil, man bewunderte seine leidenschaftliche und stürmisch mitreißende Musizierweise über alles. Aber ist das heute wirklich verschwunden? Und hat man damals wirklich das Wesentliche seines Musizierens erkannt, oder ist man nur auf faszinierende äußere Merkmale angesprungen? Wer heute beklagt, Celibidache habe die einstige musikalische Ausstrahlung verloren, der hat auch früher sicher nur die Oberfläche wahrgenommen. Vor allem in den Jahren am Pult der Berliner Philharmoniker (1945-54), wo der mittellose Student über Nacht im Rampenlicht stand, waren geprägt von überbordender Impulsivität, von wild loderndem Feuer, von obsessioneller Liebe zum Detail. In einem Interview mit Klaus Lang bekannte Celibidache: "Natürlich habe ich irgendwie gewußt, daß Musik nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's aber nicht gekonnt. Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: 'Du bist ein Idiot'." Das hat Celibidache inzwischen auch zu vielen anderen gesagt, und seit Ende der fünfziger Jahre hat er seine schöpferische Gewißheit gefunden.

Celibidaches musikalischer Zugang ist nicht analytisch, sondern integrativ, nicht statisch, sondern dynamisch, jedes Detail im organischen Gesamtzusammenhang erlebend. Wilhelm Furtwängler vermittelte dem jungen Celibidache ganz nebenbei eine fundamentale Einsicht. Er hatte Furtwängler gefragt, wie schnell es denn an einem bestimmten Übergang weitergehe, und erhielt die verständnislose Antwort: "Je nachdem, wie es klingt." Celibidache: "Furtwängler hat wie kein anderer die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem Fluß gehört und realisiert." Tempo also nicht als etwas Feststehendes, sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen zusammenschließende Bedingung, die jedesmal neu und einmalig gegeben ist! Tempo ist demnach nicht zu verwechseln mit Geschwindigkeit, dem momentanen physikalischen, aus dem Erlebniszusammenhang isolierten Ergebnis. Geschwindigkeit interessiert nicht, und wenn es dem Erlebenden nicht zu schnell oder zu langsam erscheint, spielt es überhaupt keine Rolle, was außerhalb des Erlebnisses befindliche Spezialisten messen und vergleichen. Ob die achte Symphonie von Anton Bruckner 100 Minuten dauert, die Rheinische Schumann über 40 Minuten, die Fünfte Tschaikowskij eine knappe Stunde - das kann nur für Archivare von Interesse sein oder als statistische Kuriosität. Und deswegen ist auch eine Bruckner-Symphonie nicht länger als eine Mozart-Ouvertüre. Denn der ganze musikalische Prozeß, der zwar in der Zeit stattfindet, ist seinem Wesen nach außerzeitlich, spielt sich in der Gleichzeitigkeit aller involvierten Momente ab, in der Gleichzeitigkeit folglich - auf einen verführerisch einfachen Nenner gebracht - von Anfang und Ende.

Die Denkschule der "Musikalischen Phänomenologie", entwickelt auf den methodischen Grundlagen der Philosophie Edmund Husserls, hat Celibidache mittlerweile Tausenden von Schülern nahezubringen versucht: eine Wissenschaft davon, was dem Musizieren im Wege stehen kann, eine Wissenschaft vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem Erkennen verschlossen. Was ist dann Musik? "Musik ist nicht der Klang. Musik ist überhaupt nicht, hat keine Daseinsform. Ein solches Dasein hat der Klang, dessen Wesen Harmonie ist, dessen Schönheit uns anzieht. Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang."

Als die Resultate von Celibidaches 1979 begonnener Arbeit als Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker nirgends auf der Welt mehr übersehen werden konnten, sich die Tourneen in Europa, Nord- und Südamerika und Asien, vor allem in Japan, zu wahren Triumphzügen gestalteten, wurde auch die Haltung der von ihm vielgeschmähten Fachpresse ("Wieso Fach?") davon beeinflußt, und man überhäufte ihn mit Ehrenbezeugungen und Auszeichnungen. Er war eben, wie er war... Dafür schossen sich manche umso gezielter auf seine Schüler ein. Seine für jeden offenen Kurse, die ab den siebziger Jahren in Deutschland - lange Jahre an der Mainzer Universität, einer regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte“ - und zuletzt in Paris stattfanden, sind nicht nur für jene interessant, die Wesentliches über Musik erfahren wollen: Philosophen, Physiker, Psychologen, Künstler anderer Sparten - sie alle wollen lernen von diesem Mann, der kein System vertritt, kein theoretisches Gebäude, dessen Vorgehensweise nur helfen kann, aus der Zerstörung eingrenzender Theorien, der Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus das freizulegen, was sich jeder Definition entzieht: das spontane Erleben, das Erfahren des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren. Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser "Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde" mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß, wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben auf der Strecke blieb?

Christoph Schlüren
(Dieser Artikel, verfaßt unmittelbar vor Celibidaches Tod im August 1996, erschien anstelle eines Nachrufs im Münchner Kulturmagazin 'Applaus'.)

 

Zum Tode von Sergiu Celibidache und Rafael Kubelik


Rafael Kubelik am 11. August in Luzern, Sergiu Celibidache in der Nacht vom 14. zum 15. August in Nemours in der Nähe von Paris: Innerhalb von einer knappen Woche verstarben nicht nur die zwei größten Dirigenten, die in München wirkten. Die Welt hat zwei unverwechselbar gezeichnete Charaktere, zwei bedingungslose Urmusiker von umfassendem Format verloren - künstlerisches Urgestein, wie es in dieser "schnellebigen" Zeit nicht nachwächst. Ähnlich dem legendären Václav Talich ein überragender Exponent böhmischen Musikantentums, war der am 29. Juni 1914 bei Kolin geborene Rafael Kubelik immer schon von nichts als Musik umgeben. Sein Vater, der komponierende Geigenvirtuose Jan Kubelik, sorgte für die umfassende Ausbildung als Geiger, Pianist, Dirigent und Komponist, und der 19jährige debütierte am Pult mit einer Dvorák-Symphonie. Bald wurde er zum ständigen Dirigenten der Tschechischen Philharmonie. 1948, nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei, emigrierte er in den Westen. 1950-53 war er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, 1955-58 am Royal Opera House Covent Garden, wo er die Londoner Erstaufführungen von Janáceks "Jenufa" und Berlioz' "Les Troyens" leitete. Künstlerische Erfüllung fand Rafael Kubelik ab 1961 als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München, wo er erst nach über zwanzig Jahren 1983 aufhörte und sich aufgrund fortschreitender Arthritis vom Dirigieren zurückzog. Nach der Öffnung der Tschechoslowakei hat er in Prag ein umjubeltes Comeback gegeben. Kubelik war natürlich in seiner heimatlichen böhmischen Musik zuhause wie der Fisch im Wasser, sei's nun in Smetanas "Vaterland", in Werken von Dvorák oder Janácek. Er hatte aber auch eine besondere Affinität zur ausufernden Spätromantik und zu den Bekenntnismusiken unseres Jahrhunderts: Wenigen sonst sind so verinnerlichte Wiedergaben von Kompositionen Max Regers, Gustav Mahlers oder Alexander Scriabins geglückt, selten kamen Britten oder Honegger mit solch elementarer Dringlichkeit zum Klingen, Hartmanns Symphonien erstanden in alle intellektuellen Barrieren durchdringender Menschlichkeit, expressiv, natürlich, aristokratisch. Das Schallplattenvermächtnis Kubeliks ist beträchtlich, aber nicht durchweg zugänglich. Der Komponist Kubelik, ein Schöpfer von tiefer Empfindung und hohem Anspruch, ist bis jetzt weitgehend unbekannt geblieben. Es ist an der Zeit, daß er eine gerechte Rezeption erfährt. Extremer noch steht es um Sergiu Celibidache. Auch er hat bis zuletzt komponiert, doch nur eines seiner Werke hat er je der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: den "Taschengarten", gedacht als Musik für Kinder, als lebensprühende Widerlegung allen tonsetzerischen Regelwerks - brecht die Regeln, aber wißt, wie! Celibidache hat mit den Regeln der Geschäftswelt stets gebrochen. Bis zur Mitte seiner Münchner Zeit hatte er nie irgendwo einen Kontrakt unterschrieben. Seine Arbeitsbedingungen setzte er kompromißlos durch: ein Maximum an Proben, keine anderen Projekte während seiner Arbeitsphasen, keine Aufnahmesitzungen, keine Tonträger. "Musik ist einmalig. Es erklingt unter diesen einmaligen Bedingungen so und nicht anders. Durch die Aufnahme- und Wiedergabebedingungen wird es verfälscht, sterilisiert und standardisiert." Immer wieder rekurrierte der Pädagoge Celibidache, der Tausende von Schülern unterrichtet hat, auf der Grundfrage: Was ist Musik? "Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir überhaupt über Musik sprechen?

Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten, einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang." Celibidache, am 11. Juli 1912 im rumänischen Roman geboren, wurde von seinem Vater des Hauses verwiesen, als er sich entschloß, Musiker zu werden. Ab 1936 studierte er in Berlin bei Heinz Tiessen Komposition, außerdem Dirigieren, Musikwissenschaft und Philosophie. Tiessen erkannte die exzeptionelle Begabung und notierte schon im Dezember 1944 als "meine Lieblingsdirgenten: Celibidache, Furtwängler, früher Strauss und Nikisch" - ein Anfänger an erster Stelle, zusammen mit den ganz großen deutschen Dirigenten! Über Nacht wurde Celibidache 1945 zum "Lizenzträger" der Berliner Philharmoniker, Anfang 1946 ernannte ihn das Orchester zum Chefdirigenten bis zu Wilhelm Furtwänglers Rückkehr. Celibidache eroberte die Herzen der Berliner im Sturm mit dämonischer Impulsivität, mit wild loderndem Feuer und obsessioneller Liebe zum Detail. Von alldem hielt Celibidache später nicht mehr viel, weil "Musik nicht nur Intensität und Feuer ist". Seine Anforderungen zehrten an den Kräften und Nerven der Musiker, und als Furtwängler 1954 starb, entschieden sich die Berliner nicht für den unbequemen Fanatiker musikalischer Wahrheit, sondern für den glänzenden Pragmatiker Herbert von Karajan als Nachfolger. Celibidache verlor den Elite-Klangkörper und fand zu schöpferischer Gewißheit. Sein musikalischer Zugang war nicht analytisch, sondern integrativ, nicht statisch, sondern dynamisch, jedes Detail im organischen Gesamtzusammenhang erlebend. Für viele das größte dirigentische Genie des Jahrhunderts, wurde er zugleich zum Störenfried der Branche, zur unberechenbaren kreativen Größe im geölten Musikbetrieb. Von 1954 bis 1979 stand er keinem Orchester offiziell als Chef vor, wenngleich er vor allem bei den Rundfunkorchestern in Stockholm und Stuttgart eine entsprechende Funktion ausübte und diesen musikalische Höhenflüge abforderte, die, so hieß es bei einem Gastspiel beim Finnischen Rundfunk, "nahezu unmenschlich hoch angesiedelt" waren. 1979 war die Stadt München als erste bereit, alle Bedingungen des Unbeugsamen zu erfüllen, und er übernahm die Leitung der Münchner Philharmoniker, die er wie angekündigt trotz manch dramatischer Zerwürfnisse zu einem "Weltorchester" formte, in wahren Triumphzügen um die Welt führte: Sie sind heute das Bruckner-Orchester par excellence mit der einmalig weichen, runden Klangfülle der Blechbläser, der Fähigkeit des ganzen Orchesters, aufeinander zu hören und Transparenz auch bei maximaler Intensität zu bewahren, immer wach den Gesetzen der symphonischen Kontinuität zu folgen. Es ist ein bißchen der Fluch der überwältigenden Größe, daß Celibidache heute vor allem als überragender Bruckner-Dirigent gilt: in Italien waren es Tschaikowskij und Brahms, in Stockholm Strawinskij, Bartók und die zeitgenössische Musik,

in Kopenhagen die Klassiker und Schumann, in Paris und Stuttgart Debussy und Ravel, für die er als prädestiniert galt. Je nachdem, was ein Orchester ihm geben konnte, formte er es in absichtsloser Hingabe zu etwas Spezifischem, Überpersönlichem.

Christoph Schlüren
(Nachruf für Österreichische MusikZeitschrift)

Der Gleiche und nicht der Gleiche
Celibidaches abermalige Rückkehr


Maggio Musicale Fiorentino 1995: In der Nacht vor seinem Auftritt mit den Münchner Philharmonikern rutscht Sergiu Celibidache im Hotelzimmer auf einem Teppich aus und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Vor allem in den Lagern des Münchner Musiklebens jagen sich nun die Prognosen: Das Ende von Celis "Karriere"(!). Wird Celi nie wieder dirigieren? In seinem Alter ist das das Ende... Ob es sich dabei um Betroffenheit oder Schadenfreude handelt, ist oft nicht klar bei einem Mann, der wie alle ganz Großen auf Publikum und Kritik eine polarisierende Wirkung ausübt. Doch hatten alle Skeptiker nicht mit dem eisernen Willen, der Unbeugsamkeit des 83jährigen gerechnet. Schon während des Münchner Krankenhausaufenthaltes tauchte er zweimal im Rollstuhl in der Philharmonie auf, um seine Schüler zu unterrichten. Und Anfang Juli leitete er - erstmals seit 1982 in München - an der Pariser Schola Cantorum einen eineinhalbwöchigen Dirigierkurs. Die dort waren, wußten, daß er im September wieder voll einsatzfähig sei.

6. September in der Münchner Philharmonie: nach der Generalprobe mit Bruckners neunter Symphonie meint ein Kritiker zum Solohornisten Wolfgang Gaag, einem Celi-Mann der ersten Münchner Stunde, der diesmal erste Tuba bläst: "Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Celi das noch lange durchhält." Darauf Gaag: "Das glaube ich nicht. Er erholt sich beim Dirigieren."

Was war nun anders als bisher bei diesem abermaligen Comeback-Konzert des Münchner Generalmusikdirektors? Er braucht nicht nur eine Begleitperson zum Podium und zurück, sondern auch einen Stock. Und er geht sicherer als zuvor. Doch all dieses Drumherum verschwindet restlos mit der Ruhe vor dem ersten Klang. Bei dem, was dann geschieht, ist sein Charisma nur eine glückliche Begleiterscheinung, die die unkonzentrierten Hörer zu fesseln vermag. Was muß der mitbringen, der in diese musikalische Welt eintauchen will? "Eben gerade nichts", könnte man mit Celibidache sagen. Er muß den Terror der ihn umgebenden Welt draußen lassen. Wenn Boulez einst die Opernhäuser vernichten wollte, so könnte Celibidache mit ungleich tieferer Einsicht fordern, die Uhren abzuschaffen... wenigstens beim Musizieren (für alle, die es gerne wissen wollen: die Neunte nähert sich der 80 Minuten-Grenze).

Manche Celibidache-Bewunderer von einst sind enttäuscht, weil das virtuose Element bei ihm eine geringere Rolle denn je spielt, manch ausgeklügeltes kompositorisches Detail nicht herausgearbeitet wird, öfters Einsätze verwackeln. Oder im Scherzo, wo sich an Abschlüssen einige nicht klar darüber waren, ob ritardando oder nicht - was aber sind diese Kratzer an der Oberfläche gegenüber dem, was da ununterbrochen geschieht, was - auch diesmal spürbar - immer tiefer, immer reicher, immer bezwingender wird? Für den Kritiker mag das heißen: immer extremer. Für den nicht mit Fragen der Kritik beschäftigten, wachen, offenen Hörer bedeutet es: immer näher, immer menschlicher. Celibidache und sein Orchester rühren tief an die Seele, aber nicht an die, die sich mit den Alltagsemotionen identifiziert. Sondern an die, die wie Sibelius auf den klaren Grund des Sees hinabschauen will. Daß hierin nichts ergiebiger ist als Bruckners reiche Welt, daß keiner sonst so über alle Untiefen des Satzes hinweg die Übereinstimmung des Anfangs mit dem Ende im Auge hatte, das läßt Celibidache begreifen. Diesmal war vieles in einer Vollendung, mit einer Fülle des Gehalts zu hören, wie vielleicht sonst nie. Und je mehr da zum Tragen kommt, desto langsamer wird es natürlich. Unbeirrbar geht einer seinen Weg, "so und nicht anders", und doch bleibt nichts gleich.

Bruckners Neunte wird am 21., 23., 26. und 27. September noch unter Celibidache in München zu hören sein - eine Chance auch für all jene unermüdlich Risikofreudigen, die des Maestros Auftritte in Köln vermißten.
Christoph Schlüren
(Originalfassung einer Rezension für Frankfurter Rundschau, September 1995)

 

Bruckner dauert nicht
Zu den Münchner Bruckner-Aufnahmen Sergiu Celibidaches


Gegen den erklärten Willen Sergiu Celibidaches erschien vor einem Jahr ein erstes Paket mit Aufnahmen seiner Konzerte mit den Münchner Philharmonikern als "First Authorized Edition". Nun kommt die von vielen heißersehnte Box mit den Sinfonien Nr. 3-9, dem TeDeum und der f-moll-Messe bei der EMI heraus. Bruckner und Celibidache, so hieß es oft, das sei eine alles andere in den Schatten stellende Symbiose. Hatte Celibidache zur Musik Anton Bruckners einen besonders innigen, intensiven Zugang?

Er, der am Ende seines Lebens als der größte Bruckner-Dirigent unserer Zeit galt, hätte dies in seiner Liebe zu Paradoxien wohl sowohl bejaht als auch verneint. Verneint insofern, als er aus seiner Erfahrung jegliches Spezialistentum als wider die musikalische Natur ablehnte. Schließlich ging es ihm doch gerade darum, über das intensive Studium aller Details und ihrer Beziehungen untereinander zur Transzendenz der einzelnen Erscheinungen und damit zum Gesamterleben des einmaligen Zusammenhangs, der ein musikalisches Werk ist, vorzudringen. Celibidache hatte begriffen, daß dies nicht über den Willen des Interpreten zu erreichen ist, weswegen der Begriff der Interpretation ein Dorn in seinen Augen war. Es ging ihm nicht um ein Anderes per se, und in der vergleichenden intellektuellen Einstellung erkannte er eines der Haupthindernisse auf dem Weg zum Musizieren: "Es gibt keine Interpretation im musikalischen Akt. Was wollen Sie denn interpretieren? Die Topographie des Stücks – leider muß ich hier einen so statischen Begriff verwenden, einen dynamischeren habe ich nicht –, diese Topographie ist unabwendbar gegeben. Die Art, wie Sie durch eine Landschaft hindurchgehen, hängt natürlich von Ihnen ab – Sie tun es so, wie Sie es können. Was wollen Sie dabei verbessern? Jede Landschaft hat ihre einmalige Beschaffenheit, für Sie wie für die anderen. Wie kann ich dann ein Ritenuto machen, wo der Satz ein Accelerando fordert? Und wie kann ich einen Sturm entfachen, wo Ruhe herrscht? Die Idee vom 'genialen Interpreten', von der so aussagekräftigen persönlichen Auslegung ist nur Dokument persönlicher Armut, von Ignoranz, Anmaßung und Eitelkeit."

Der Weg, den Celibidache einschlug, war vielmehr der der absichtslosen Hingabe an die erlebte Wirklichkeit des Komponisten, der absoluten Identifikation mit dessen Vorstellungswelt, zu der er über die Korrelation der nicht interpretierbaren Struktur, über das in den strukturierbaren Parametern (Harmonie, Melodie, Rhythmus) Verankerte Zugang fand. Statische Formbetrachtung war ihm wesensfremd. Von seinen Studenten forderte er, daß sie jede Partitur allmählich in sich zum Leben erweckten und nicht über den unzulänglichen äußeren Höreindruck, am Klavier oder gar mit einer Aufnahme, auswendiglernten. Denn nichts soll zwischen dem Menschen und seiner Tätigkeit sein, erst recht nicht eine falsche Vorstellung als überflüssigstes Hindernis. Das Musizieren als jener zerbrechlichste Akt, wo vollkommene Passivität und höchste Aktivität koexistieren, duldet keinerlei Abschweifung in eigendynamische Prozesse, die nicht aus dem Gesamtverlauf heraus motiviert sind. Das Bewußtsein bleibt immer auf die Verwirklichung der Gesamtform als lebendigem Organismus gerichtet, innerhalb dessen jeder Moment seine unerläßliche Funktion hat. Je komplexer dabei die Gesamtform beschaffen ist, desto determinierter ist der einzelne Moment in seiner Ausführung – was für so gegensätzliche Naturen wie Bruckner oder Webern gleichermaßen gilt und bei Letzterem auf eine empfindliche Grenze der Ausführbarkeit stößt: Denn Weberns miniaturistische Ausformung der hochkomplizierten tonalen Beziehungen fordert eine höchst differenzierte Realisierung auf kleinstem Raum ein. Gibt es etwas Zerbrechlicheres? Eine Woche Proben für einige Minuten Webernscher Orchestermusik mit diesem hohen Risiko des Mißlingens, das wollte auch ein Celibidache seinen musikalischen Fahrgesellen nicht zumuten.

Bei diesem auf das Gesamterlebnis gerichteten funktionalen Zugang zu jeder einzelnen klanglichen Situation ist es klar, daß beim Studium kein methodischer Unterschied vorgegeben ist, ob es sich nun um ein Werk von Frescobaldi, Mozart, Tschaikowsky oder um die bevorstehende Uraufführung eines neuen Werks handelt. Der Unterschied entsteht erst jedesmal neu mit dem Erleben der Beziehungen zwischen den angeeigneten Faktoren. Bewege dich wie ein Chamäleon in der musikalischen Landschaft, und behalte stets den gesamten Weg im Auge! Nur so, indem sie als lebendiges Wesen ersteht, ist der spezifische Ton einer Komposition zu treffen. Das Ganze war für Celibidache eben nicht die zusammengezählte Summe der Details, weswegen er auch darauf bestehen konnte, von der ersten Probe an keine Partitur zu benötigen (auch bei Uraufführungen), indem er die Details nicht mehr als Gedächtnisleistung abzurufen brauchte, sondern aus ihrer Sinnfälligkeit im Gesamtzusammenhang heraus erlebte. Wissen ist unerläßlich als Voraussetzung zur funktionellen Aneignung. Aber dann, im Akt des Musizierens, ist kein Wissen mehr dabei. Die Aneignung geschieht, um frei zu werden für die nächste Aneignung. Das vollzieht sich in einem kontinuierlichen Prozeß des Nicht-anders-Könnens, der nicht zwanghaft abläuft, sondern nur dem freien, sich spontan betätigenden Bewußtsein zugänglich ist. "Und wenn der starke Intellektuelle meint, Musik wäre damit [mit dem Intellekt] zu erfassen, dann wüßte ich wirklich nicht, warum Adorno gelebt hat und wo seine vielen Löcher im Wasser geblieben sind."

Und doch hätte Celibidache seine besondere Affinität zu Bruckner nicht bestritten. Er hielt ihn nach wie vor für einen Unverstandenen, dem man aus Ratlosigkeit gegenüber seinen schöpferischen Dimensionen die Probleme seiner Interpreten zum Vorwurf machte, und trug sich mit dem Gedanken, ein Buch über Bruckner schreiben. Celibidache hat kein Buch geschrieben, wie er auch keine Platten mehr gemacht hat. Sicherlich hat er Bruckners Tonsprache, seine Stileigenheiten geliebt.Und sicher war die der deutschen Romantik zusprechende, Bruckners Musik tief verbundene Mentalität seines Orchesters, der Münchner Philharmoniker, die beste Voraussetzung für seine ohnehin vorhandene Neigung. Aber was Celibidache an Bruckner am meisten schätzte – im Gegensatz zu Mahler –, war dessen Fähigkeit und Streben nach formaler Konzentration, nach "Interkorrespondenz aller beteiligten Werte". Hier, in Bruckners Formwelt, griff der von ihm so gerne zitierte Zen-Satz "Wenn ein Gras stirbt, weinen alle Wälder", denn "Bruckner hat es von allen am weitesten gebracht als Sinfoniker. Keiner hat es wie er vermocht, auch bei maximaler Gegensätzlichkeit der Gedanken immer die Identität von Anfang und Ende zu erleben. Alles hängt mit allem zusammen. So ist zum Beispiel die lange E-Dur-Fläche am Schluß des ersten Satzes der siebenten Sinfonie nur aus der Zurückhaltung, dieser Verzweiflung vor der Coda heraus berechtigt."

Von organisch zusammenhängendem Erleben waren Celibidaches Bruckner-Aufführungen erfüllt. Die extremen Kontraste sind stets im Bewußtsein ihrer finalen Ergänzung ausgespielt. Keine Wirkung wird vermieden, auch wird nirgends eine Wirkung gesucht, die im Tonsatz nicht angelegt wäre. Die lyrischen zweiten Themen sind in ihrer Essenz, ihrem kontrapunktischen Reichtum ausgekostet, ohne je in berauschte Schwelgerei abzugleiten. Alles ist zielgerichtet. Nicht nur die orchestrale Balance, ausgesungene Phrasierung und sinnfällige Offenlegung der motivischen Strukturen, auch die Kunst der Übergänge hat Celibidache kultiviert wie kein Zweiter. Er hatte den weiten Atem für Bruckners harmonische Artikulation, für die formkonstituierenden Notwendigkeiten in dessen visionären Architekturen, dessen prinzipiell neue, über bloße Ansätze bei Beethoven (7. Sinfonie, 1. Satz) und Schubert (9. Sinfonie, 1. Satz) hinausgehende formale Errungenschaft: "Bruckner blieb nicht bei der einfachen Gegensätzlichkeit zweier Themen, der Sonatenform: Er explorierte die Triangulation, die konsequent aus der Opposition von drei einander entgegengesetzten thematischen Welten entsteht. Das bedeutet nicht einfach: 'drei Themen' – das gibt’s ja schon bei Beethoven –, das setzt vielmehr auch das Opponieren der harmonischen Flächen voraus." Ein Komponist, der so entschlossen neue Dimensionen formaler Tragfähigkeit erkundet, riskiert.

Unausgewogenheiten: "Als Ganzes wirklich gelungen sind die vierte, fünfte und vor allem – in der zyklischen Geschlossenheit der Sätze – die achte Sinfonie. Die drei Sätze der neunten Sinfonie sind wunderbar aufeinander bezogen; leider fehlt der letzte Satz. In der dritten Sinfonie herrscht eine leichte Willkür im zweiten Satz, und in der sechsten und siebenten Sinfonie gibt es Probleme im Finale." Gemeint sind jeweils die Endfassungen, denn hier hielt es Celibidache kategorisch mit Bruckners letztem Willen, nicht ohne triumphierenden Verweis auf die viel gelungenere Gesamtdisposition in der letzten Version der achten Sinfonie. Work-in-progress als Ergebnis war für Celibidache möglicherweise interessant, aber bei seiner kompromißlos an der Einmaligkeit und Unumkehrbarkeit des musikalischen Prozesses orientierten Haltung musikalisch nicht verwertbar.

Viele Unausgewogenheiten von Bruckners Instrumentation sind nicht ihm anzulasten: "Nichts ist unsymphonisch bei Bruckner. Die Schwäche der Holzbläser ist aufgrund der neueren Entwicklung der Blechbläser zu mehr Intensität zustandegekommen. Bruckner hat die tiefste Oktave im Orchester entdeckt und reichlich davon Gebrauch gemacht. Eine entsprechende Dimension stand in der Höhe nicht zur Verfügung. Dadurch fehlt oben etwas. Diese Fähigkeit, die oberste Oktave tragfähig zu machen, ist vor allem bei den Franzosen zu bewundern. Bei Ravel und Debussy klingt der Diskant nie zu schwach." Was das Tempo betrifft, hat Celibidache unermüdlich unterstrichen, daß dieses keine Existenz in sich besitzt, sondern nur als einmalige Bedingung die Vielfalt der Erscheinungen zu einer Einheit bindet. Tempo sei nicht dasselbe wie seine meßbare Manifestation, die Geschwindigkeit. Diese ist abhängig von der Informationsdichte, die nicht ein für allemal für ein bestimmtes Stück festgelegt werden kann, denn zu viele variable Faktoren spielen herein wie beispielsweise die Saalakustik, die Besetzungsstärke, der Ausdrucksreichtum und die Befindlichkeit einzelner Spieler usw. So ist das Ergebnis auch unter optimal einstudierten Bedingungen jedesmal ein anderes, einmaliges. Hier liegt auch der Hauptgrund für Celibidache konsequente Ablehnung der Schallplatte. Ein anderer Grund ist der, daß ein großer Teil der Klangerscheinungen (vor allem Obertöne, Kombinationstöne, real räumliche Mischverhältnisse) nicht aufgenommen werden kann, folglich eine ästhetisch wie auch immer zu rechtfertigende Entstellung darstellt und somit die klingende Berechtigung der Tempi aushebelt. "Das 'Langsame' bei Bruckner ist im Reichtum fest begründet. Bruckner dauert nicht." Wenn er also auf der CD doch dauert, dann dürfen wir uns wieder daran erinnern, was alles fehlt. Celibidache hat die Konservierung des musikalischen Augenblicks mit einem Foto verglichen. Man kann vieles erkennen, nur nicht, wie es wirklich war. Daß ihn die Moden der Zeit nicht erschütterten, ist freilich unschwer zu begreifen: "Bruckner ohne Weihe? Warum nicht auch Suppe ohne Wasser?" Denn "was du an Bruckner schätzst, ist nicht 'seine Musik', sondern was seine Klänge in dir hinterlassen, was absolut nicht faßbar, nicht zu definieren ist."

Christoph Schlüren
(Beitrag für 'Klassik Heute', 1998)

 

Festschmaus im Orkus des Gegenwartsbejahenden
Schnöder Verrat oder frohe Botschaft?


Was ist von Celibidaches Plattenablehnung, was von einer Celibidache-CD-Edition zu halten? Und was erwartet den Musikfreund?

Viel Wirbel hat es nach Sergiu Celibidaches Tod um die Nachricht gegeben, daß nun erstmals gegen seinen Willen eine offizielle Edition seiner Konzertaufnahmen auf Tonträger erscheinen soll. Man hat seinem Sohn Serge Celebidachi (so lautet die urkundliche Schreibweise des Familiennamens) vorgeworfen, schnell ans große Geld kommen zu wollen und das geistige Vermächtnis des Vaters skrupellos auszuhebeln. Zynische Kommentare in manchen Tageszeitungen und Fachmagazinen spiegelten Unverständnis, Verwirrung und Neid auf die Gnade des großen Erbes. Doch der Fall der postumen Vermarktung wider Willen ist vielschichtiger als es manchem vorschnell Höhnenden scheinen möchte. Serge Celebidachis Entscheidung ist wohlüberlegt und gründet in schwer widerlegbaren Argumenten. Wie man weiß, lehnte Sergiu Celibidache seit Mitte der fünfziger Jahre nach einigen problematischen Erfahrungen Plattenaufnahmen grundsätzlich ab. Er tat dies zuallererst, weil sowohl Aufnahme- als auch Wiedergabetechnik unter keinen Umständen akustisch identische Verhältnisse zum realen Klang im Raum herstellen können, was jeder, der schon mal mit Aufnahmen zu tun hatte, wissen müßte. Aus dieser Tatsache der Nicht-Reproduzierbarkeit der originären Vielfalt und Zueinander-Bezogenheit der klingenden Phänomene ließ sich nun vielerlei ableiten, was manche Bücherschreiber mehr inspiriert hat als die Basisbegründung der lebenslangen Ablehnung. Freilich stimmt es, daß ein einmaliger, lebendiger Prozeß nicht ohne Verlust des Wesentlichen - dessen nämlich, was einmalig an ihm ist - wiederholt werden kann. So ist die mechanische Repetition einer aufgrund einmaliger Bedingungen zustande gekommenen Situation ein todsicherer Spontaneitäts-Killer und stumpft den Menschen in seiner Wahrnehmungsbereitschaft sowohl im Musikalischen als auch ganz allgemein ab - von der durch die ständige Verfügbarkeit hervorgerufenen Mentalität des Nebenher-Konsumierens ganz zu schweigen. Durch die Kastration des klanglichen Spektrums, so Celibidache, "sind die Menschen ärmer geworden", sie geben sich mit einem manipulierten Ausschnitt einer möglichen Gesamtheit zufrieden, halten ihn aufgrund von Gewöhnung schließlich für real und verlieren den Sinn für den Reichtum des Erscheinenden ebenso wie die spontane Unterscheidungsfähigkeit zwischen zusammenhängender und nicht zusammenhängender Gestaltung, zwischen eindeutiger und beliebiger Strukturation. Eine "Philosophie" hat man Celibidaches unerbittliche Wahrheitsgewärtigkeit genannt; Bewußtheit und Konsequenz hat man, in Anerkennung und Aufwertungsdrang der geschäftstüchtigen Mittelmäßigkeit, als "Verbitterung", "Fanatismus" und "Idiosynkrasie" geoutet.

Serge Celebidachi hat, das beweist er mit seinem Film 'Le jardin de Sergiu Celibidache', die Haltung seines Vaters gründlich verstanden und seine "Phänomenologie", die keine Philosophie, sondern nur eine messerscharfe Methode zum Ausschluß von Irrtümern, eine Kunst der rechten Negation ist, verinnerlicht. Er steht völlig hinter dieser unnachgiebigen Haltung, die nach dem Ableben Celibidaches zum vollends unantastbaren Symbol der reinen Gegenwartsbejahung kristallisiert ist, des ursprünglich Künstlerischen und damit profund Menschlichen in positivem Sinn. Solche Geistesgegenwärtigkeit schließt in ihrer Kontinuität Vergangenes und Künftiges ein, doch hängt sie nichts nach - nichts anderes geschieht beim Musizieren, und wenige waren so "drin" wie Celibidache, wobei gerade diese unbeirrbare Konzentriertheit auf das Gesamte viele seiner Kritiker irritierte und Komplexe auslöste, die sich in sentimentalen Anwürfen über "Manierismus", "kalte Perfektion" und "sterilen Formalismus" kundtaten, ganz zu schweigen von der oberflächlich-gewohnheitsmäßigen Kategorisierung der "Langsamkeit".

Fraglos: Für den Plattengeschulten erscheint es zu langsam, dem ungeduldig Unkonzentrierten zu langatmig, überdies, - wie immer - jeder hört etwas anderes, liest etwas anderes heraus. Und auf der Aufnahme ist es dann tatsächlich zu langsam. Nur sollten wir uns darüber im Klaren sein, daß auf der Aufnahme alles, was bei der realen Entstehung "stimmte", zu langsam ist. Und darüber, daß, wenn wir das nicht merken, unsere Wahrnehmung abgestumpft ist. Insofern werden CDs mit Celibidache-Aufnahmen unsere Sinne für die klingende Wirklichkeit auch nicht schärfen. Jede CD ist ein mehr oder weniger bekömmlicher Schmaus im Orkus. Aber mit Recht sagt sich Serge Celebidachi, daß den Sinnen auch nicht besser gedient ist, wenn gar nichts von Celibidaches Vermächtnis zugänglich ist - außer einer zunehmenden Flut von Piratenkopien. "Schließlich hat mein Vater es besser gemacht als die anderen, warum sollen die Leute es dann nicht hören dürfen. So eine CD ist wie eine Fotoserie, ein Dokument, eine Erinnerung." Mit Illusionspotential, wäre zu ergänzen.

Serge Celebidachi hat sich für eine Veröffentlichung entschieden, zur Unterstreichung der Solidarität mit dem Geist des Verstorbenen aber jegliche Gewinnbeteiligung seiner Familie ausgeschlossen. Stattdessen soll der Erlös zwei Stiftungen zufließen; vor allem einer zur fachgerechten Ausbildung angehender Dirigenten, denen Phänomenologie-geschulte Lehrer und ein permanentes Orchester klingende Hilfe leisten sollen; außerdem einem Fond für Hilfebedürftige in aller Welt. Die Edition selbst soll umfassenden dokumentarischen Charakter haben, also möglichst das gesamte Repertoire Celibidaches präsentieren - ein in seinem Umfang schwer zu realisierendes Vorhaben, denn bis in die siebziger Jahre finden sich auf Celibidache-Programmen Raritäten zuhauf. Einen Haupt-Schwerpunkt bilden natürlich die Aufnahmen mit den Münchner Philharmonikern, die Celibidache von 1979 bis zu seinem Tod im August 1996 leitete und deren Konzerte in der Münchner Philharmonie seit Herbst '85 lückenlos aufgezeichnet wurden. Angesichts der spezifischen Qualitäten dieses Orchesters sind es vor allem symphonische Werke der deutschen Tradition von Schumann über Bruckner und Brahms bis Strauss, die hier unübertroffen gemeistert sind. Die zahlreichen italienischen Mitschnitte sind hochinteressant, wenngleich von meist geringerer Qualität der Ausführung und Konservierung; die alten Berliner Aufzeichnungen klingen sehr historisch, wogegen die Aufnahmen der Rundfunkorchester aus Stockholm, Stuttgart, Paris usw. von unschätzbarem Wert sind: Sei es die feinstoffliche Ekstase der Klassiker, sei es französischer Impressionismus oder russische Symphonik, sei es die reich vertretene Musik dieses Jahrhunderts - den Hörer erwartet ein Fest. Wahrscheinlich muß er noch einige Zeit darauf warten, denn Serge Celebidachi will in der Sache keine Kompromisse machen, und ein Angebot, bei dem alles seinen Vorstellungen entspricht, liegt noch nicht vor. Wenn es dann soweit ist, wird damit zwar keines der Konzerte Celibidaches zu neuem Leben erweckt werden können und die CD wird armselig bleiben wie bisher, aber vielleicht wird doch in manchem wachen Zeitgenossen eine vage Ahnung aufsteigen, welch tönender Kosmos sich hinter der undurchdringlichen Trennwand zwischen einmaliger Realität und vielmaligem Abbild auftut. Und er wird merken, was im Wege steht. Das wäre das Hören wert.

Christoph Schlüren
(Beitrag für 'Kunst & Kultur', 1997)

 

Ein Regenbogen für Celibidache

Portrait-Film von Serge Celebidachi

Sergiu Celibidache hieß ursprünglich Sergiu Celebidachi, so läßt es uns die bescheidene Grabplatte auf dem kleinen Friedhof in Neuville-sur-Essonne, eine Autostunde südlich Paris, wissen. Womit all jene, die seinen Namen in schöner Regelmäßigkeit falsch geschrieben und ausgesprochen hatten, im Nachhinein sich bestätigt fühlen dürfen. Nun hat sein Sohn Serge Celebidachi im Louvre seinen zweieinhalbstündigen Film "Le Jardin de Sergiu Celibidache" vorgestellt, der im Frühjahr auch in deutschen Kinos laufen soll. Ein langer Film, und all jenen, die Celibidache nicht mochten, sicher zu lang und nicht unbedingt dazu angetan, aus einem ehernen Saulus einen Paulus zu machen. Die Stärke dieser Hommage an die geistigen Gärten des Vaters liegt sicher in der Hingabe, der - bewußten! - Naivität, dem Willen zu einem womöglich alle wesentlichen Aspekte offerierenden Gesamtbild. Gerade aus dieser Nähe gewinnt Serge Celebidachi den Weg heraus aus dem Mythos, zeichnet das vielgesichtige Portrait vom vulkanischen Gärtner, dessen Lebens- und Musizierideal von "Entpersönlichung" gekennzeichnet war. Persönlichkeit im positiven Sinne, so hatte Celibidache erkannt, kümmert und sorgt sich nicht um sich selbst. Celibidache war ein hinreißender Schauspieler, weil er kaum schauspielerte, sondern sich stets völlig in den Dienst der Situation stellte. Seine Lebenseinstellung war von unverstellter Spontaneität geprägt, von entsprechend natürlicher Hemmungslosigkeit, und dies begreiflich zu machen gelingt dem Film in vortrefflicher Weise. Ob der dokumentarische Bogen, der zwischen philharmonischem Musizieren (Bartóks Konzert für Orchester, Bruckners Neunte, Mozarts Requiem, Haydn, Beethoven, alles unerhört plastisch, extremfreudig und unverfälscht aufgenommen mit einem Mikrophon und damit den kommerziellen Aufnahmen weit überlegen), phänomenologischer Schule und geruhsamen Episoden in den Gärten der Mühle von Neuville in unregelmäßiger Regularität changiert, mit eigenwilligen Übergängen und entschiedenen Schnitten operiert, ob dieser Bogen als formale Ganzheit tragfähig ist, wie vom Regisseur intendiert, darf bezweifelt werden. Doch läßt dies das dokumentarische Medium kaum zu, und - wenigstens was das Resultat betrifft - hierin steht der Sohn Gustav Mahlerschem "die ganze Welt enthalten" näher als der durch derlei Verlockungen nicht verführbare Vater.

Serge Celebidachi ist eine mitreißende Folge von Blicken auf die Innenwelt des ihm Nächststehenden geglückt, voll Verve und Enthusiasmus, aber ohne Beschönigung oder Vereinfachung und fern jeglicher Langatmigkeit. Er hat - im ursymbolischen Sinn - einen Regenbogen gebaut, der die Illusion des Unauslöschlichen wachhält.

Sergiu Celibidache ist tot, sein persönlicher Reichtum unwiderbringlich verloren, sein Vermächtnis ist nicht konservierbar, sondern eben nur lebbar als nicht an ihn gebundenes Vermächtnis. Serge Celebidachi hat trotzdem der Veröffentlichung von kommerziellen Tonaufnahmen der Dirigate seines Vaters prinzipiell seine Zustimmung erteilt. Wann, wo und wie eine Celibidache-Edition herauskommen wird, steht aber noch in den Sternen. Sie soll möglichst umfassend Celibidaches Gesamtrepertoire dokumentieren, das viel größer war, als die Kritiker der späten Jahre erahnen dürften. Sie baut keineswegs nur auf der abschließenden Münchner Phase auf, den Jahren der Erfüllung mit einem großen Bruckner-, Brahms-, Strauss-Orchester. Auch die Stuttgarter Epoche, wo er vor allem als unnachahmlicher Zauberer impressionistischer Partituren galt, und der lange Höhenflug des Schwedischen Rundfunk-Symphonieorchesters mit packenden Aufnahmen zeitgenössischer, nordischer und russischer Symphonik und Klassiker-Aufführungen von feinstofflicher Ekstase werden dazugehören, und viele weitere Stationen eines wechselwirbelnden Lebenslauf mit konsequentem künstlerischen Rückgrat. Zu den wertvollsten Dokumenten zählen die auch filmisch exzellenten Proben- und Konzertmitschnitte des Schwedischen Fernsehen im Stockholmer Konserthus. Die Celebidachi-Familie wird auf die Einnahmen aus der Vermarktung verzichten und diese in zwei Stiftungen - in einer für junge Musiker, vor allem auszubildende Dirigenten, die permanenter Orchesterarbeit unter Anleitung bedürfen, und einer für Hilfebedürftige in aller Welt - einsetzen. Celibidache wird als Symbol für die Nichtquantifizierbarkeit des Qualitativen, für den gelebten Widerstand gegen das Unlebendige unangetastet bleiben, aber die akustischen Schatten dessen, was er als Musiker war, sind künftig jedermann zugänglich.

Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau, November 1996)

 

Perahia über Celibidache


Murray Perahia gilt vielen als der "mozartischste Pianist" unserer Zeit. In der Tat verkörpert wohl seit dem großen Dinu Lipatti keiner so das Zusammentreffen von zauberhafter Innigkeit, beflügelter Transparenz und stürmischem Zugriff wie der 1947 in der Bronx geborene, von aus Griechenland eingewanderten sephardischen Juden stämmige Perahia, der heute abend in der Philharmonie das erste von drei Konzerten mit den Philharmonikern unter Celibidache gibt. Auf dem Programm steht Beethovens viertes Klavierkonzert.

Perahia betont, wie sehr er es genießt, mit Celibidache zu spielen: "Ich habe das größte Vergnügen daran, da ich mich rundherum als wirklicher Musiker fühlen kann. Alles ist natürlich - und Natürlichkeit ist gerade heute von äußerster Bedeutung, auch wenn viele es für zu simpel halten. Die Menschen werden doch von einer solchen Künstlichkeit gefangengenommen, und sie verlieren den Kontakt zu ihrer musikalischen Natur, zu ihrer Gefühlswelt! Celibidache hat da einen anderen Weg beschritten.

Soweit ich es sehe, hat er es verstanden, das zu leben, was wirklich wichtig ist, und stets bei sich zu sein. Er ist immer in Kontakt mit seiner Emotionalität und mit dem musikalischen Geschehen. Ich fühle mich frei im Zusammenspiel mit ihm, in jenem ständigen Geben und Nehmen, und so eine Gelegenheit ist sehr selten. Gerade auch in der Schumann-Symphonie bewundere ich jenen natürlichen Fluß, sein Rubato, das nie Selbstzweck ist. Er hat seinen Weg gefunden, und für mich ist es eine große Freude, daß wir ein Stück davon zusammen gehen."

Interview: Christoph Schlüren
(veröffentlicht in der Münchner tz)