Jubiläum
Musikalische Freude und Konzentration
Die
Münchner Philharmoniker beginnen mit Celibidache
und Barenboim ihr Jubiläumsjahr
„Es gibt keinen Musiker bei den Münchner Philharmonikern, der auch nur einen Ton in einer mechanischen, routinierten, unbedachten Weise spielen darf." So hat es Daniel Barenboim beobachtet und in seinem Erinnerungsbuch („Musik - mein Leben") festgehalten. „Von Celibidache lernen" heißt darin ein kleines Kapitel, das Barenboim seinem väterlichen Freund gewidmet hat. Und der dürfte der einzige sein, den der weltberühmte jüngere Dirigent und Pianist bis heute als seinen „Lehrmeister" ansehen mag. Seit den achtziger Jahren, schreibt Barenboim, gehörten die Konzerte mit Celibidache in München „zu den alljährlichen Hauptereignissen in meinem beruflichen Leben". Der Grund? Er glaube nicht, daß er nach Proben und Konzerten mit Celibidache jemals von München weggefahren sei, „ohne neuen Stoff zum Nachdenken gehabt zu haben ... Diese ständige Beschäftigung mit Phrasierung und Artikulation hat jeden Musiker bereichert, der Celibidache kennen gelernt hat." Um wieviel mehr jenes Orchester, dem Münchens Generalmusikdirektor seit nunmehr 14 Jahren vor steht!
Auch Orchester, nicht nur Bücher, haben ihre Schicksale. Die Münchner Philharmoniker können nun ebenso wie die Philharmoniker aus Wien, Berlin oder New York auf mehr als ein Jahrhundert Geschichte und Geschichten, auf große Augenblicke, große Namen - und auch viele musikalische Alltagsmomente - zu rückblicken. Die Jubiläumssaison 1993/94 soll daran erinnern, und wenigstens deren Start hat man in den vergangenen Tagen zu feiern versucht. Doch der Hochglanz eines Festjahres, den man ursprünglich kräftig auftragen wollte, ist durch die Sparpolitik der Stadt arg reduziert worden. München läßt kaum festlich aufspielen, hat hauptsächlich abgeblasen.
Geblieben ist das Sonderkonzert des Orchesters unter Celibidache in der Philharmonie, mit Daniel Barenboim als So list. Da konnte der Kulturbürgermeister der Stadt, Christian Ude, vorneweg nicht umhin, die Münchner Philharmoniker „einen der gefragtesten Botschafter der Landeshauptstadt" und mithin einen „Klangkörper" zu nennen, „auf den die Stadt zu Recht stolz ist". Die schöne Idee, jedem Musiker des Orchesters am Ende auf dem Podium eine rote Rose zukommen zu lassen, stammte dann allerdings von Gasteig-Direktor Eckhard Heinz. Ude ergriff beim Empfang der Stadt im Alten Rathaus dann noch einmal das dürre Wort - aber den Stolz auf diese Musiker dürfte er ja ruhig einmal etwas stärker, womöglich auch emotional nach außen kehren .. .
Schließlich hatten sie mit Celibidache und Barenboim zuvor hinreißend musiziert. Bei Beethovens heroischem Es-Dur-Konzert zeigte sich Barenboim als sorgfältig und originell gestaltender, kraftvoll zupackender, im Adagio entrückt verweilender Solist, mit dem das Orchester flexibel und außerordentlich klangschön konzertierte. Celibidache und die Philharmoniker ließen in Mussorgskis „Bildern einer Ausstellung" die Detailfreude der genialen Ravel - Instrumentation, vor allem die kantige Schwermut des russischen Komponisten visionär aufleuchten - um am Ende monumental, in einem schier unvorstellbaren Orchestertriumph, durchs „Große Tor von Kiew" hindurch zuschreiten.
Was die Münchner Philharmoniker heute sind, ist nicht plötzlich und nicht durch einen einzigen Dirigenten entstanden. Sondern so, wie Celibidache gern das Wörtchen legato definiert: „Aus dem Be stehenden weiter." Denkwürdige Zeiten, Momente des Orchesters, an die zu erinnern lohnt? Nach 1945 die „Epochen" mit den Chefdirigenten Hans Rosbaud, Fritz Rieger, Rudolf Kempe; die Gastdirigate von Furtwängler, Klemperer, Solti, Jochum und anderen Maestri. Gewiß ist Gustav Mahler am Dirigentenpult, der in München sowohl seine vierte (1901) als auch seine achte Symphonie (1910) aus der Taufe hob, von besonderer Denkwürdigkeit. Und der lebendigen Mahler- Tradition bis heute korrespondiert die Bruckner-Vorliebe dieses Orchesters, was gewiß ein besonderes Klangvermögen zur Voraussetzung - oder auch: zur Folge hat. Und so konnten die Zuhörer am Abend nach dem Sonderkonzert in der Philharmonie einmal mehr erleben, was es mit Bruckner auf sich hat, wenn Celibidache am Pult steht.
Statt der Kritikerbeschreibung diesmal das Wort des Bruckner-Dirigenten Barenboim. Zu den Charakteristika Celibidaches zählten, meint er, „langsame Tempi, eine besondere Art der Phrasierung, die oft einen weniger vollen Klang vom Blech fordert, und seine spezielle Art, Phrasen zu beenden". Ich würde da gern beckmessern: Voller, weil vollkommen durchstrukturierter Klang im Blech ja, scharfer oder gewalttätiger Klang niemals. Barenboim meint, Celibidache halte an den unerschütterlich und langsam pulsierenden Zeitmaßen fest, „nicht nur weil er einen ununterbrochenen Klang haben möchte", sondern er brauche das langsame Tempo, „um all das auszudrücken, was er in der Musik sieht. Sein Tempo ist mit der Substanz der Musik und des Klanges verbunden."
Die Aufführung von Bruckners achter Symphonie, eines des Glanzstücke der Münchner Philharmoniker unter Celibidache seit der denkwürdigen Aufführung 1979 in der Münchner Lukaskirche, geriet über die Maßen stimmig. Aber was heißt schon stimmig oder klangschön? Die Münchner können unter ihrem Chefdirigenten, wenn der Augenblick glückhaft ist, eine Dimension erreichen, die anderen Orchestern nur schwer zugänglich ist. Einhundert Minuten Brucknerscher Klangstrom - und es scheint kein Zeitticken darin enthalten, die Zeit scheint in einem einzigen symphonischen Fluß Dauer zu haben. Diese Musiker sind mittlerweile allesamt Spezialisten des langen Atems, und der erfordert von jedem einzelnen soviel Konzentration wie Klangkunst durchs Gebot des „Entstehenlassens" der Musik. Für viele von ihnen ist das die vollkommene Erfüllung im Beruf des Orchestermusikers.
Je weniger die darbende Stadt München Grund hat, mit dem großen Geld umherzuwerfen, um ein Orchesterjubiläum zu finanzieren (sie trägt ja das ganze Orchester), desto mehr liegt es an den Philharmonikern selbst, eigene Ideen zum Feiern zu entwickeln; und auch zusätzlich Sponsoren dafür zu finden. Schön wäre es beispielsweise, wenn sie wieder mehr zeitgenössische Musik spiel ten, wie 1985 zur Philharmonie - Eröffnung auch wieder Kompositionsaufträge erteilten. Gewiß sind da noch nicht alle Möglichkeiten ausgereizt, und das Jahr ist noch lang.
Man hat beispielsweise schon die Münchner Stadtsparkasse für sich gewonnen. Sie wird Ende Oktober in ihrer großen Kundenpassage eine Philharmoniker - Ausstellung präsentieren, und sie wollte jetzt zum Jubiläum in diesem Raum erstmals Musik erproben: Das Philharmonische Kammerorchester spielte unter der Leitung des philharmonischen Solo-Oboisten Michael Helmrath frühe Werke von Mozart und Mendelssohn - im Geist nicht der abschnurrenden Virtuosität, sondern strikt musikalischer Sinnhaltigkeit. Und der Solo-Cellist des Orchesters Helmar Stiehler meisterte Haydns C-Dur-Cellokonzert mit überaus nobler Geste: nicht ganz einfach, wenn der eigene Chefdirigent als wachsamer Hörer unmittelbar vor einem sitzt.
Die Münchner Philharmoniker haben allen Grund zur Freude: Sie werden in München geliebt (mit Abonnementanträgen bestürmt) und international stark beachtet. Und sie haben einen großen alten Maestro zum Chefdirigenten. Der Kritiker des Corriere della sera nannte ihn neulich sogar „den größten lebenden Dirigenten".
Gute Aussichten für die nächsten 100 Jahre also? Der Bestand des Orchesters mit seinen 130 Mitgliedern ist für die kommenden Sparzeiten gesichert, dafür haben die Musiker sogar selbst gekämpft. Apropos Kampf und Geld: Ihren Weltruhm, der dem Rang der anderen Münchner Orchester übrigens keinen Abbruch tut, haben sich die Musiker ehrlich, live, durch ihre Tourneen in vielen Ländern und Kontinenten erarbeitet (wovon auch das gerade erschienene „Jahrbuch" wie der berichtet), jedenfalls nicht durch Platten - die Celibidache nach wie vor ab lehnt. Natürlich ärgern sich die internationalen Musikmarktstrategen, daß sie mit Celi nicht genügend Geschäfte machen können; und dem Orchester und Celibidache gingen dadurch, so meint der findige Orchesterdirektor Norbert Thomas etwas traurig, insgesamt eine halbe Milliarde verloren.
Was die Münchner Philharmoniker und die Musikfreunde dabei jedoch gewinnen, ist etwas anderes: eine heute nirgendwo sonst anzutreffende Qualität des Musizierens, des Aufeinanderhörens der Musiker, der orchestralen Klangtransparenz. Daniel Barenboim weiß dafür den entscheidenden Grund: „Celibidache hat ein ganz ausgezeichnetes Gehör und ist einer der schärfsten musikalischen Köpfe, denen ich je begegnet bin."
Wolfgang
Schreiber, Süddeutsche Zeitung 13.9.93
Fast
paradiesisch
Sergiu
Celibidache und die Münchner Philharmoniker im
Gasteig
Was sind denn 45 Jahre? Beinahe so lange dürfte es
her sein, dass ich zum erstenmal einem sprühend
jugendlichen, überschlanken und hochgewachsenen,
schon damals von der Aura des Außerordentlichen
umgebenen Dirigenten - Sergiu Celibidache -
begegnete, der Tschaikowskys „Vierte" unvergesslich
vehement und ihr Finale in aberwitzig heftigem,
lichterloh entflammten Tempo darbot. Der alte
Furtwängler, kein guter, sondern ein eifersüchtiger
Kollege, spöttelte damals, Musik gerate keineswegs
unbedingt feurig, wenn die Dirigenten sich wer weiß
wie feurig gebärden. Dabei hatte er selber auch
höchst ekstatisch angefangen ...
Mittlerweile 81jährig, gibt der respektgebietend
souverän disponierende Maestro eine extrem andere,
nämlich würdevolle, auf noble, klassisch-klare
Schönheit bedachte Interpretation von Tschaikowskys
Vierter Symphonie. Zwar scheut er das machtvolle
Fortissimo keineswegs, aber die verzweifelte
russische Bravour liegt ihm jetzt fern. Man spürt,
dass ihn, den von Indiens Geist und Seele so tief
Berührten, auch die wilden Crescendi Tschaikowskys
eigentlich nicht mehr interessieren. Er lässt sie
ausführen, aber er heizt nicht auf, steigert sich
nicht hinein. Er dirigiert Tschaikowsky jetzt teils
paradiesisch schön, teils behäbig gebremst, teils
pedantisch überdeutlich. Und seine Philharmoniker
verwirklichen die Visionen ihres Maestro nahezu
perfekt.
Was heißt „paradiesisch"? Nun,. der Schluss des auch
im Ganzen sehr schön gelungenen langsamen Satzes,
oder die tänzerische H-Dur-Episode des Kopfsatzes
nach dem zweiten Thema (Takt 134ff.): Da wird die
Musik zum zärtlichen Glück, während des Lebens
schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Man spürt immer: Effektbesessene Brutalität soll
nobilitiert, aufgedonnerte Brillanz in wohllautende
Humanität verwandelt werden. Dazu sind relativ
ruhige Tempi nötig. Die jedoch kosten ihren
Behäbigkeits-Preis. Nicht dass der erste Satz fast
23 Minuten dauerte (Maazel und Karajan kommen da mit
ungefähr 18 Minuten aus), ist ein kritisches
Argument, wohl aber der Umstand, dass der Eintritt
des Solo-Klarinetten-Themas nach einem wunderbar
poetischen Ritardando um seinen Effekt gebracht
erscheint, da das ohnehin sehr ruhige Tempo zu einem
forcierten, wirkungslos überdehnten Ritardando
führen musste. Die Durchführung kann man sich kaum
klarer, durchsichtiger vorstellen. Doch weil der
treibende Wille fehlt, scheint die
Paradieses-Klarheit einer gewissen
Demonstrations-Pedanterie benachbart.
Wie Celibidache den dritten Satz aus einem
weltläufig virtuosen Pizzikato-Reißer zum bürgerlich
sinnigen Genre-Stück zurückverwandelte: Es klang
hübsch, originell, bieder. Doch im Finale „Allegro
con fuoco" änderte die manchmal allzu ruhige Gebärde
beklemmend den Geist der Sache. Wenn da Passagen
aufrauschen, stehen sie doch ein für Tschaikowskys „élan
vital", für Sturm und Schwung. Wird das nur mit
exakter Gelassenheit ausgeführt, dann bleiben statt
dessen bloß Tonleitern. Gott sei Dank, Celibidache
sei Dank, durfte es dann am Ende doch imponierend
beherrscht schmettern. Keine Nuance heikelster
rhythmischer Verschränkung ging verloren.
Ovationshafter Beifall.
Das Anfangsstück, Haydns späte Es-Dur-Symphonie
(„mit dem Paukenwirbel") erklang allzu behäbig.
Während Celibidache offenbar an der Vergeistigung
und Nobilitierung Tschaikowskys gelegen war, scheint
er der wahrlich spannungsvollen Spiritualität Haydns
eher fern. Das tönte belanglos, fast langweilig.
Gelegentlich herrschte chinesische
Spieldosenklarheit. Gewiss, das Tempo „stand"
souverän unbeirrbar, so dass winzigste Abweichungen
bereits ihre Wirkung taten. Schwer zu sagen, warum
der Sound der Streicher so beklommen, so gebremst
blieb. Genügt die kleinere Orchester-Besetzung der
Gasteig-Akustik nicht? Oder sollte gar Haydn
schwerer sein als Tschaikowsky, in dessen heimliche
Paradiese uns Celibidache hat blicken lassen.
Wolfgang
Schreiber, Süddeutsche Zeitung 9.11.93