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Spiegel Nr.1/1947



"Vielleicht sind das Muttertränen..."


Sinfonie und Krieg

 

In ihrem 11. Konzert spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sergiu Celibidache die Sinfonie Nr.7, Opus 60, in 4 Sätzen von Dimitri Schostakowitsch. Es war die deutsche Erstaufführung des Werkes.

Uraufgeführt wurde die Sinfonie am 5. März 1942 in Kujbyschew, dem früheren Ssamara an der Wolga. Damals spielten die Leningrader Philharmoniker unter Eugen Mrawinskij. Das große russische Orchester war damals an die Wolga evakuiert worden.

Die Londoner Erstaufführung erfolgte etwa drei Monate später unter Henry Wood. Wiederum vier Wochen später hörten die New Yorker zum ersten Male diese Schostakowitsch-Sinfonie.Toscanini dirigierte.

Die Sinfonie wird in späteren Zeiten als historisches Dokument gelten. Sie entstand in dem von deutschen Truppen eingeschlossenen Leningrad. Schostakowitsch arbeitete daran, während die Stadt unter ständigem Bombenhagel und mörderischen Artilleriebeschuß lag.

140 Mann spielen 1 1/4 Stunden lang. Aber man wird nirgends von Lärm oder von einem paroxistischen Zuviel erschlagen. Plastische Themen, deutlich erkennbar selbst im Fortissimo werden abgelöst von sehr zart zurückhaltenden lyrischen Passagen, wahren Kantilenen und schönen Soli der Instrumente.

Der Komponist erklärt selbst zu diesem Opus: ”Der erste Teil der Sinfonie handelt davon, wie eine furchtbare Gewalt - der Krieg - mitten in unser schönes friedliches Leben hereinbrach. Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, die Kriegshandlungen zu naturalistisch darzustellen - das Dröhnen der Flugzeuge, das Rollen der Panzer, die Salven der Kanonen - ich habe keine Schlachtmlalerei erzeugen wollen. Ich wollte nur den Inhalt der schicksalsschweren Ereignisse wiedergeben.”

”Die Exposition des ersten Teiles der Sinfonie berichtet von dem glücklichen Leben der Menschen, die ihrer selbst und ihrer Zukunft sicher sind. Es ist das schlichte friedliche Leben, das Tausende von Leningraderzusammen mit dem Sowjetvolk geführt haben.

Das Thema Krieg geht durch die ganze mittlere Episode. Den Mittelpunkt des ersten Teils bildet ein Trauermarsch oder besser gesagt: Ein Requiem für die Gefallenen des Krieges.

Dem Requiem folgt eine noch tragischere Episode. Ich weiß nicht, wie ich diese Musik kennzeichnen soll. Vielleicht sind das Muttertränen oder ein Gefühl so tiefer Trauer, daß auch die Tränen versiegen.

Nach einem langen Fagottsolo, das den Schmerz über die gefallenen Freunde zum Ausdruck bringt, folgt das lyrische Finale des ersten Satzes. Ganz zu allerletzt hört man noch, wie aus weiter Ferne, das Thema Krieg, das an den andauernden Kampf erinnert”.

Schostakowitsch spricht aus, was ihm auszudrücken gelang. In sublimierter Form, nicht etwa als illustrative Musik für ein Hörspiel oder einen Filmstreifen, gestaltet er musikalisch die Wirkung des Kiegsgeschehens. Die grausam gesteigerte Monotonie des Marschthemas, in der Zermürbungstaktik an Ravels Bolero erinnernd, suggeriert die zermalmende Gewalt der sinnlosen Kriegsmaschinerie.

Der zweite Satz fügt hierzu im Kontrast Erinnerungen an vergangene Freuden, ein wehmütiges Scherzo. Der dritte Satz, ein pathetisches Adagio, ist von religiöser Stimmung erfüllt. Ihm schließt sich unmittelbar das Finale an, das von der grandiosen Vision des kommenden Sieges gekrönt wird. Eine mitreisende, unvergeßliche musikalische Apotheose.

Der Beifall war sehr stark. Im Publikum hörte man von einem ”Musikereignis von internationaler Bedeutung” von einer ”Meisterleistung europäischer zeitgenössischer Musik” und ähnlichem sprechen.

Celibidache verteilte an die Orchestermitglieder die Chrysanthemen der ihm gespendeten Sträuße. Die Wochenschau filmte.

 

 

Der Berliner Tagesspiegel schreibt hierzu:

In einem Gespräch mit dem Musikschriftsteller Friedrich Herzfeld, damals im Tagesspiegel ausgewertet, hat der Dirigent Auskunft gegeben über das Stück, und Herzfeld steuerte ein paar lebendige Beobachtungen bei: »Die Besessenheit, mit der sich Celibidache dem neuen Werk über den heroischen Kampf des Sowjetvolks gegen die Hitlerpest hingibt, ist die beste Antwort auf alle unsere Fragen... Die glühende Überzeugung Celibidaches ist von der Einsicht getragen«, daß Schostakowitsch durch »das heroische Schicksal seiner Vaterstadt« angeregt worden sei. Celibidache halte die Sinfonie daher auch für eine der »monumentalsten Bekundungen unserer Zeit in Tönen« und schätze sie zugleich als »ein in die Zukunft führendes Werk der Musik«. Nach dem Konzert, das dem Philharmoniker-Chef auch im Ausland, Ost wie West, Respekt und große Resonanz eingebracht hat, hielt der sowjetische Stadtkommandant eine kurze Dankesrede; es gab viele Blumensträuße, der Zuhörer Wilhelm Furtwängler kam nach vorn an die Rampe und begrüßte seinen erfolgreichen Stellvertreter.