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Radio Sinfonie Orchester Stuttgart



Bis an die Grenze des Möglichen!


Sergiu Celibidache und das Südfunk - Sinfonieorchester in der Stuttgarter Liederhalle
Auszug aus einem Artikel von Wolfram Schwinger in der Stuttgarter Zeitung zum Konzert am 29. 11.1974.

 


Ein großes, festliches Programm: Strawinskys Ballettsuite "Der Kuß der Fee", Mozarts späte Es-dur- Sinfonie und die Vierte von Brahms - Sergiu Celibidache und das Südfunk-Sinfonieorchester geizten also nicht mit Musik (bei Karajan hätte man ganz sicher auf eine der beiden Sinfonien verzichten müssen!) - ja, sie gaben dem enthusiasrnierten Publikum im restlos ausverkauften Beethovensaal gar noch einen Ungarischen Tanz von Brahms zu, der erneuten und immer noch vermehrten Jubel auslöste. In diesen Tagen gastieren Celibidache und sein Orchester mit genau diesem Programm in acht west- und norddeutschen Städten. Sie werden Staat damit machen!

Seit Celibidache mit dem Südfunk-Sinfonieorchester regelmäßig arbeitet, also seit etwa zwei Jahren, hat es sich völlig verwandelt, es ist. nahezu ein neues Orchester geworden. Nach diesem Konzert festzustellen, es zähle nun zu den europäischen Spitzenorchestern, ist keine Übertreibung. Celibidache hat das Orchester zu einer klanglichen Eleganz erzogen, die in ihrer Feinheit und Sensibilität kaum noch zu überbieten ist. Brillanz und Präzision, ein Gesamtklang von ebensoviel Gespanntheit wie federnder Leichtigkeit: das sind die Kennzeichen des Erreichten.

Was sich damit ausrichten läßt, zeigte die Wiedergabe von Strawinskys Divertimento aus dem "Kuß der Fee", dieser 1928 komponierten, Tschaikowsky huldigenden Ballettrnusik: sie erklang traumhaft schön, minuziös ausgefeilt in jedem Detail, von Celibidache höchst raffiniert ausbalanciert in den klanglichen Verhältnissen von den Streichern zu den Bläsern, mit einer Pikanterie im tänzerischen Rhythmus, mit einem ungewöhnlichen Flair für die melodische Süße dieser Liebeserklärung an den russischen Altvorderen. Wieviel betörende Noblesse hatten allein die Soli der Bläser oder des Violoncellos vor den hauchzart schwirrenden Hintergründen des Streichorchesters! In diesem Genre hat Celibidache heute keinerlei Konkurrenz.

Bei Brahms stößt Celibidache bis an die Grenzen des Möglichen vor. Da werden äußerste Extreme geradezu gesucht, in Kontrasten des Tempos so sehr wie in der Vielfalt der Dynamik. Da fehlt es weder am üppig-herben Tuttiklang noch an zartestem Filigran begleitender Figurationen, da kommt der grüblerische Balladenton so sehr zu seinem Recht wie die dramatische Gestik etwa In der wuchtig drängenden Coda des ersten Satzes oder in den eruptiven Variationen der Final-Passacaglia. Oder die Hörner am Schluß des Andante: kann man sich eine Steigerung solch eherner Größe überhaupt vorstellen? Bei all dem hält Celibidache das Klangbild so transparent, daß man Stimmen zu hören vermag, die man bisher immer nur in der Partitur gelesen, aber noch nie wirklich vernommen hat, geschweige denn so vernommen hat wie sie die Südfunk-Musiker spielen.
Große Gratulation!