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Radio Sinfonie Orchester Stuttgart



Dirigieren heißt entfalten


Sergiu Celibidache und die Erfolge des Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

von Erwin Schwarz

Gleichgültigkeit gegenüber Sergiu Celibidache ist nicht denkbar. Gesellschaftskritikern dient er als Aushängeschild für die These, dass Interpretation im Grunde Zwangsarbeit sei. Orchestermusiker kann er zum Glühen bringen, wenn er auf offener Bühne Küsse der Anerkennung austeilt, oder zum Verzweifeln, wenn er die Kontrabassisten zum Probenbeginn zehn Minuten lang die Instrumente stimmen lässt. Mit seiner eigenwilligen Mozartauffassung kann er ein Auditorium in begeisterte Ja-Sager und empörte Buh-Rufer spalten.

Vor allem aber kann er eines: seine hochsensible Klangphantasie mit Beharrlichkeit, Energie und unbestechlichem Ge hör bei hundert Musikern ausnahmslos durchsetzen und zugleich deren Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen. Seit er in zwei alljährlichen Arbeitsabschnitten das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart betreut und es in kürzester Zeit zu „seinem" Orchester gemacht hat, hat sich der Stellenwert der Schwabenstreicher und -bläser ganz rapide verändert. Die vier Stuttgarter Konzerte des Maestro sind Wochen im voraus schon ausverkauft, und von der Deutschland-Tournee brachten die Stuttgarter enthusiasmierte Rezensionen wie die der „Welt" nach Hause: „Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart ist, seit Celibidache es betreut, nach den Berliner Philharmonikern vielleicht das beste deutsche Orchester heute."

Ein Erfolg dieser Art kann nicht als Rezept weitergegeben, bestenfalls beschrieben werden, zumal Sergiu Celibidache keinen Ehrgeiz darin entfaltet, seine klanglichen Ergebnisse auch noch zu kommentieren. Für eine aufwendige Publikation beispielsweise, bei der einem ganzseitigen großformatigen Foto des Dirigenten eine persönliche Äußerung handschriftlich gegenübergestellt werden sollte, rang sich Celibidache genau zwei Wörter ab - seine Unterschrift. Schallplatten hat er immer gemieden, weil er die Unwiederholbarkeit eines Ereignisses für selbstverständlich hält und weil die Mechanisierung der musikalischen Zeit die Gefahr mit sich bringt, dass die Musik ihres menschlichen Wesens beraubt wird. In die Tonbänder des Rundfunks, in die Fernsehaufzeichnungen seiner Probenarbeit hat er sich schließlich gefügt. Aber um Popularität auf bunten Hüllen und runden Rillen ist ihm nicht zu tun.

Celibidaches Leben, dessen Reifestadium die Stuttgarter Hörer nun mit höchstem Genuß miterleben, läßt sich als beispielhafter Konzentrationsprozeß darstellen. Er ist 1912 in Roman (Rumänien) geboren. Auf Wunsch seines Vaters sollte er Ingenieur werden, zog es aber vor, als Unterhaltungspianist Geld zu verdienen. Der Zufall brachte ihn als Begleiter einer Tanzschule nach Paris, wo er ein Musikstudium begann, dessen Stil ihm jedoch nicht behagte. In Berlin fand er schließlich die adäquate Förderung bei Thiessen und Gmeindl, bei Thomas und Stein. Bei allen Prüfungen wurde das Außergewöhnliche seiner Veranlagung sichtbar: seine Partiturbeherrschung, sein Gedächtnis, seine hochsensible Musikalität, seine leidenschaftliche Unzufriedenheit mit allem Mittelmäßigen.

Die, große Stunde des Dreiunddreißigjährigen schlug 1945, als die Berliner Philharmoniker ohne Chefdirigenten dastanden. Sie stießen auf den Rumänen, er kannten seinen besessenen Ernst, sein Verantwortungsbewußtsein und engagier ten den jungen Mann, der als Dirigent nach eigenen Worten „rein deutsches Erzeugnis" war und als Mensch ungewöhnliche Vielfalt offerierte. Er hatte neben dem Musikstudium Vorlesungen in Philosophie und Mathematik belegt, gehörte seiner religiösen Gesinnung nach dem Buddhismus zu und kontrastierte seine spekulativen Neigungen durch eine Art Wahlverwandtschaft zum Duft des französischen Impressionismus, zum spritzigen Ton der Neuklassik, zu den delikaten Schattierungen des alten galanten Stils.

Den Celibidache der fünfziger Jahre hat man in Europa und Amerika noch in lebhafter Erinnerung. Er war ein Star auf dem Podium, der seine Gebärdenfreude ungehemmt nach außen spielte, dem der Rhythmus in die Beine und in die Hüften fuhr, der weithin hörbar mitsang und mit brummte und dem die Laufbahn eines Schaudirigenten amerikanischer  Prägung vorgezeichnet schien. Er konnte Lautstärken dramatisieren oder in ferne Klangahnungen verwandeln. Tempi überhitzen oder überdehnen, erreichte aber immer Klangergebnisse von atemberaubender Schönheit und suggestiver Eindringlichkeit. Gleichgültig gespielte Töne gab es in seinen Konzerten nicht.

Obwohl er in Italien und in Mittelamerika besonders gerne tätig war und schließlich im Jahre 1963 einem Ruf als Chefdirigent des Schwedischen Rundfunkorchesters Stockholm Folge leistete, kam er immer wieder nach Stuttgart zum Sinfonieorchester des Südfunks, wo man mit seinen Eigenheiten vertraut war, seinen für den Konzertalltag ungeheuerlichen Forderungen nach zehn oder zwölf Probenterminen entsprach, sich auf die Delikatessen seines Musizierens freute, sein Ringen um das deutsche Repertoire verfolgte und die Verinnerlichung seines Stils beobachtete.

Erfahrung und Intelligenz haben Sergiu Celibidache klar werden lassen, dass Dirigententum und Jugendstil in äußerer Maske erstarren können, dass das optische Element nicht Bedingung oder Voraussetzung für ein Musikerlebnis sein muß. Zurückhaltung in der Geste bedeutet kein Nachlassen des Fluidums, wenn sich ein Orchester mit geringen Mitteln intensivieren läßt. Höchste Intensität entsteht nicht aus dem optischen Aufwand, sondern aus dem empfindsamen Wechselverhältnis zwischen Dirigent und Orchester, das sei ne gestalterischen Reaktionen im Klang lebendig werden und sich von seiner nachschöpferischen Erregung anstecken lassen muß.

Celibidache und das Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart sind nach wenigen Arbeitsabschnitten Vertraute geworden, die sich gegenseitig beschenken. Dem Dirigenten ermöglicht die Qualität des Orchesters eine Realisierung seiner Klangvorstellungen bei minimalem äußerem Aufwand und die konsequente Ausweitung seines Repertoires, besonders in die deutsche Klassik und Romantik. Das Orchester hat ein neues Selbstwertgefühl, sieht seine schon lange vorhandene künstlerische Potenz voll entfaltet und seine Zukunft auch im Bereich der Rundfunkstrategie gesichert.

„Wir gehören zusammen." Wenn „Celi“ das seinen Stuttgarter  Musikern   immer wieder vorsagt, dann nicht, weil sie es nur zögernd begreifen kannten oder wollten. Er will ihnen damit ihre Mitverantwortung an den Erfolgen, die üblicherweise der meistexponierten Person im Konzertsaal allein zugeschrieben werden, deutlich machen und ihren Anteil am neuen künstlerischen  Rang vor Augen halten.  Entsprechend ist das menschliche Verhältnis: überzeugende Freundlichkeit in den Proben, lebhafter Gedankenaustausch in den Konzertpausen, viele Orientierungsgespräche auf Tournee, keine erzwungene Distanz zwischen Star und Dienstleistenden. Mit Beharrlichkeit wird versucht, Sergiu Celibidache in der kommenden Saison statt für zwei nunmehr für drei Arbeitsabschnitte nach Stuttgart zu bekommen, wovon die Schwetzinger Festspiele zweifellos auch profitieren würden.

Schon heute sind die Stuttgarter unter Celibidache am Klang zu erkennen. In ihm schwingt etwas von der konzessionslosen Argumentationskraft einer mönchischen Seele. Auf dem Podium vollziehen sich Meditationen von beklemmender Schönheit, die nicht durch verallgemeinerndes Misterioso erzeugt werden, sondern durch einen Raster feinster Nuancen an Klangfarbe, die ausgebreitet werden durch ein sensibles Gespür für die Relativität der Zeitmaße und ausgehört sind bis in die letzte Schwebung zwischen Klang und Verstummen. Dass nach solchen Abenden der -Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle von Ovationen wogt und das Publikum nur widerstrebend die Plätze räumt, ist man mittlerweile schon gewohnt.