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Musik als Ausnahmezustand

Sergiu Celibidache und die Münchner Philharmoniker in Bukarest

Sergiu Celibidache ist nicht nur ein musikalisches Symbol, sondern den Rumänen zugleich ein Zeichen, dass ihre Kultur überlebt hat. Der kulturelle Nachholbedarf ist erschreckend; um so mehr muss ein international renommierter Dirigent wie Celibidache das rumänische Selbstwertgefühl stärken, wenn er sich seinem Volk so verbunden zeigt wie jetzt in Bukarest. In das psychisch äußerst labile und gefährdete politische Klima kam Celibidache mit seinen Münchner Philharmonikern wie eine Erleuchtung. Knappe fünf Tage lang war er in Bukarest die zentrale Figur für die Kulturwelt, auf die sich alle Wünsche, Hoffnungen, ja Wunder Erwartungen konzentrierten. Für knapp fünf Tage über nahm das Konzerthaus „Athenäum" im Zentrum von Bukarest die Funktion eines Amtssitzes. Abgesehen von den zahlreichen Delegationen, die er empfangen musste, den Kursen am Konservatorium und den strapaziösen Konzerten gab er noch zwei Konzerte gratis in Form öffentlicher Generalproben vor allem für die Studenten, die bereits morgens um sieben eine Schlange am Eingang des „Athenäums" bildeten - für Seelenfutter. Ein dankbareres Publikum konnte sich auch das Orchester nicht wünschen. Mit demselben Stolz, mit dem die Bukarester ihren Landsmann feierten, präsentierte Celibidache „seine" Münchner Philharmoniker, ließ immer wieder die einzelnen Musiker bejubeln.

Celibidache, als erster westlicher Musiker seit der Revolution zurückgekehrt, wird in Rumänien als eine Art Mythos verehrt. Christian Mandeal, Dirigent der Bukarester Philharmoniker, bezeichnete ihn stell vertretend als „Symbol des Wissens, Könnens und der musikalischen Begabung", und Kulturminister Andrei Plesu erkannte ihn sogar als eine „verkörperte Utopie", auf die viele Rumänen lange gewartet hätten. Zugleich sah Plesu in den Konzerten eine Rechtfertigung der Revolution und der bisherigen Regierungspolitik, welche Kultur und Musik wieder möglich mache. Außerdem, so Plesu, sei nach so viel politischer Bewegung ein Augenblick von Harmonie dringend nötig gewesen.

„Celibidache ist einzigartig", so beschloss auch der Musikkritiker Alfred Hoffmann seine dreispaltige Kritik in der Zeitung „Romania libera". Was das rumänische Publikum in den vier überfüllten Konzerten empfunden haben mag, lässt sich mit Hoffmann sehr gut nachvollziehen. Dem Orchester attestiert er einen „traumhaft schönen Klang". Die Holzbläser in der Ouvertüre zu Verdis „Die Macht des Schicksals" werden ob ihrer „Zärtlichkeit und Noblesse" bewundert, die Blechbläser erscheinen ihm im langsamen Satz von Bruckners siebter Sinfonie wie die „Resonanz aus der anderen Welt". Bei Brahms' erster Sinfonie werden die „geheimnisvollen, schattenhaften Aspekte" gerühmt, bei „Don Juan" von Richard Strauss die „Verinnerlichung und Meditation anstelle der puren Orchesterbravour". Das Orchester sei heute in der Lage, Celibidaches absolute ästhetische Vision nachzuvollziehen und das Publikum auf den höchsten spirituellen Gipfel zu heben. In eine ideale Welt fühlt sich Hoffmann getragen, die für einige Stunden vergessen lässt, „was hässlich, vulgär und kleinmütig" ist.

Obwohl Hoffmann die materielle Hilfe herausstellt, die zahlreiche Firmen und die Münchner Bevölkerung für diese Reise bereitstellten, lässt er keinen Zweifel, dass der Hunger nach Kultur eine ebenso große Not in Rumänien darstellt. Seit etwa zehn Jahren traten in Rumänien keine bedeuten den europäischen Orchester und Solisten mehr auf, und die Wirkung der Münchner Philharmoniker war so unmittelbar, dass es zu ergreifenden Szenen kam. Viele ließen ihren Tränen freien Lauf. Trotz der Armut wurde Celibidache mit Blumen überhäuft, die Bravorufe und die stehenden Ovationen wollten kein Ende nehmen. Im Schlusskonzert fing das Publikum sogar zu singen an - und erstaunte mit der lupenreinen Intonation in der ausgefallenen Tonart Ges-Dur.

Celibidache selbst wollte sich über seine Gefühle nicht äußern. Seiner Meinung nach hatte das Ganze mit Musik nichts zu tun, sondern hur mit Politik. Das Publikum sah es gerade umgekehrt. Es ließ sich von Bruckners magischen Klängen, die Celibidache aus seinem Orchester holte, aus der Politik entführen und wollte am Schluss der Sinfonie auch gar nicht mehr zurückkommen. Sekundenlang oder minutenlang blieb es reglos sitzen, ganz im Unterschied zur ersten Sinfonie von Brahms, bei der sich die emotionale Bewegung sogleich löste. Viele Plätze schienen doppelt oder dreifach verkauft, was mit eilig herbei getragenen Stühlen halbwegs ausgeglichen wurde, aber unter feuerpolizeilichen Aspekten eine Katastrophe hätte werden können. Und wer auch keinen Notstuhl mehr ergattern konnte, überlebte im stehenden Gedränge. Die Hitze im Saal war gewaltig: Seit zwei Wochen etwa wird das „Athenäum" wieder geheizt, ja im Überschwang sogar über heizt. Manche konnten es noch immer nicht fassen und hatten Pelzmütze und Wintermantel anbehalten. Sehr viele junge Leute waren in diesen Konzerten. Sie sind Rumäniens Hoffnung, und die Musik, die sie erlebten, gab ihnen selbst Hoffnung - auf eine bessere Welt, die keine Utopie bleiben darf.

Gemessen an den Problemen mit der Versorgung, der Bildung einer Demokratie, den Ängsten vor einer neuen Diktatur, der tief sitzenden Skepsis und Lähmung angesichts der plötzlichen Freiheit, mussten diese Konzerte als Ausnahmezustand er scheinen. Sie nur musikalisch zu verstehen würde die politische Lage verkennen. Sie nur politisch zu verstehen, hieße die Macht der Musik verkennen.

Lotte Thaler