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Triumphale Tournee durch Norddeutschland und Paris

Celibidache und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart


„Sergiu Celibidache, seit 1972 Künstlerischer Leiter des Stuttgarter Rundfunkorchesters, beendet seine dortige Tätigkeit mit einer triumphalen Deutschlandtournee." Dieser Satz - zitiert aus dem „Hamburger Abendblatt" vom 21.2. 1977 - enthält für den Kenner der deutschen und inter nationalen Musikszene mehr als die nüchterne Aussage: In ihm ist - wie mit einem Zeitraffer - eine der interessantesten Episoden der deutschen Orchestergeschichte der Nachkriegs zeit zusammengefasst.
Was diese Episode bemerkenswert macht, verdient ausdrücklich festgehalten zu werden. Da ist ein Dirigent von höchsten Ansprüchen, der als gebürtiger Rumäne mit jeder Faser seines Wesens an Deutschland, an der Musik in Deutschland, am deutschen Orchester hängt. Da ist ein Orchester, welches dies spürt und sich für diesen anspruchsvollen und empfindsamen Künstler einsetzt, und da ist nicht zuletzt ein Institut, welches diesem großen Mann ein Arbeitsprogramm ermöglicht, wie es seinen Vorstellungen entspricht, und wie er es wohl hie und da, aber eben nicht selbstverständlich und kontinuierlich gefunden hat.
Es soll hier nicht versucht werden, die Motive zu ergründen, die Celibidache bewogen haben, seine Arbeit in Stuttgart mit einem Orchester zu beenden, dem er sich offensichtlich nach wie vor verbunden fühlt. Vielmehr verdient der Gipfel seines Zusammenwirkens mit diesem Orchester eine ausführliche Dokumentation, und dies um so mehr, als diese Tournee ihren Höhepunkt in einer Aufführung der 8. Symphonie von Anton Bruckner im Théâtre des Champs Elysees in Paris gefunden hat, womit ein besonderer Wunsch Celibidaches erfüllt wurde. Wer den Jubel eines überwältigten französischen Publikums an diesem Abend erlebt hat, für das Bruckner - und erst recht seine „Achte" - ein „Buch mit sieben Siegeln" war, vermag zu ermessen, was Celibidache mit seinem Orchester für das Verständnis Bruckners, für die symphonische Musik erreicht hat. Dies wurde offiziell sichtbar in den Glückwünschen, die Ministerpräsident Raymond Barre dem Vorstand des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart zu diesem Er folg ausgesprochen hat.
 Es ist wohl kein Zufall, dass das Spektrum der Werke dieser Tournee von Brahms über Bruckner, Verdi und Debussy bis Bartók reicht. Die folgenden Auszüge aus Rezensionen mögen dokumentieren, welchen Beitrag Celibidache, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und der Süddeutsche Rundfunk für die deutsche Orchesterkultur geleistet haben.

Presseberichte der Tournee

Sergiu Celibidache bescherte dem Leverkusener Publikum ein bedeutsames Konzertereignis. Obwohl eine Bruckner-Renaissance zur Zeit deutlich spürbar ist, haben konzertante Aufführungen seiner Sinfonien immer noch Seltenheitswert. Um so denkwürdiger war Celibidaches Konzertarbeit, denn er stellt seine Interpretation unter das Motto „Verständlichkeit". Er versucht in jeder Phase des umfangreichen Werks eine einsehbare Systematik aufzuspüren. Celibidache sucht die Details und lässt sie sehr bewusst von den Musikern ausführen. Die Deutlichkeit in der Überlagerung von Haupt- und Nebenstimmen, in der Parallelität von gegensätzlichen Motivgruppen, die in einem ganz anderen Satz plötzlich wieder auftauchen, ist in dieser Einprägsamkeit wohl nur in Celibidaches Aufführungspraxis zu finden. Dass er in dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart ein Ensemble gefunden hat, das seinen Absichten in so entscheidender Weise entgegenkommt und sie auch um setzt, ist wohl ein seltener Glücksfall.
Ingeborg Schwenke - Runkel
(„Kölner Stadtanzeiger", 16. Februar 1977)

Die Musikerfahrungen dieses Abends wird man so bald nicht vergessen: Debussys „La Mer" in einer Aufführung von erlesener Delikatesse des Klanges, und Brahms' 1. Sinfonie in einer z. T. recht eigenwilligen, aber überall überzeugenden Interpretation, in der sich Sensibilität noch für die zartesten Ausdruckstendenzen und scharfe Profilierung der motivischen Verzahnungen im Lot hielten. Sergiu Celibidache, den Schallplattenfans so gut wie unbekannt, für Musikkenner hingegen einer der markantesten Dirigenten unserer Zeit, präsentierte sein Radio-Sinfonieorchester Stuttgart als eines der diszipliniertesten und nuancierungsfähigsten Musikensembles unserer Zeit. Erstaunen zu Beginn über die Programmplanung: Was soll der Vorspann von Verdis pausbäckig-plakativer „Macht des Schicksals"-Ouvertüre vor den so empfindsamen sinfonischen Skizzen Debussys und dem grüblerisch zermürbten und zermürbenden Brahms? Die Erklärung stellt sich ein in den ersten Takten des Debussy: In atemberaubendem Pianissimo setzten die Celli ein - ich kann mich kaum erinnern, so verhaucht und dabei doch so präzis artikulierte Celloklänge je vernommen zu haben - , in zartestem Piano folgen die Holzbläser, das (noch) gedämpfte Blech: Solch perfekte Magie klanglicher Abstufungen gelingt nicht ohne einen derber abgestimmten Aperitif, eine Ouvertüre eben, zum Einspielen, Ausprobieren der Akustik des Saales, Anwärmen der Blasinstrumente. Vom ersten bis zum letzten Takt fesselte Debussys „La Mer" auf eine rational kaum durchschaubare Weise - gewiss nicht als Aufeinanderfolge perfekt abgestufter Klangdetails, mehr als eine Art hymnischer Verklärung der als farbenreich und zutiefst beseelt vorgestellten Meeresnatur.
Und auch diese seltsame Einsicht er brachte der Abend: Da gibt es heute einen genialen Dirigenten, der es riskiert oder sogar schafft, sich den Schallplattenmerkantilismus vom Halse zu halten, da er ihn als Bedrohung unserer Musikkultur - nicht nur in der Provinz - begreift, und der dann dennoch in einem gleichsam normalen Tournee-Konzert den gemeinhin als ruinös empfundenen aufführungstechnischen Schallplattenstandard erreicht, wenn nicht übertrifft - offenbar und bekanntermaßen als Folge auch eines entsprechend harten Probenengagements. Ein Widerspruch? Oder die beiden Seiten einer Medaille?
Ekkehard Strehler
(„Neue Rheinzeitung", Wuppertal, 17. Februar 1977)

Celibidache, schon oft in Kassel gefeiert, kam mit „seinem" Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, das er nach fünf Jahren wieder verlässt. Das bestenfalls routinierte Rundfunkorchester hat er zu einem Elite-Ensemble gemacht, das fähig und bereit ist, seine Wünsche zu realisieren. Sein Programm: Den Haydn-Variationen von Brahms folgten zwei Meisterwerke unseres Jahrhunderts, Debussys Tongemälde „La Mer" (1903—1905) und das Konzert für Orchester, das Béla Bartók zwei Jahre vor seinem Tode schrieb, im Sommer 1943.
In diesem Brahms, gar schon in der Ausbreitung des mittelalterlichen Chorals Sankt Antonis, leuchtet er in sensibler dynamischer Schattierung jede Themenwiederholung eine Spur anders aus. In der filigranhaften Nachzeichnung des polyphonen Geflechts der Variationen entsteht eine Leuchtkraft, die die Erinnerung an Fenster einer Kathedrale beschwört. Satte Farben noch, die später Debussy in der Schilderung des Meeres gebrochen anwendet. Die stärksten Spannungen erzeugt er im schimmernden, raunenden Pianissimo bereits hier, unübertrefflich dann im Debussy.
„Das Meer" ist das Meisterwerk, das radikalste des Franzosen, da Debussy hier mit aller Tradition bricht, die vertrauten architektonischen Gesetze nicht wieder auf nimmt. Die Einstudierung Celibidaches ist der Genialität des Werkes adäquat. Sie zeigt darüber hinaus noch etwas Wesentliches: den prozessualen Vorgang, wie er sich in der Musik abspielt, wie Musik Ereignis wird. Er bietet als Ergebnis harten Probentrainings keine polierte Oberfläche, sondern er fordert den einzelnen Stimmen eine individuelle Timbrierung ab, die dem Hörer eine Spontaneität suggeriert, die anderen großen Dirigenten keineswegs so glaubwürdig gelingt.
Das Orchester seiner Prägung übersetzt seinen Willen in kristallinischen Klang. „La Mer" wird als Tongemälde hell, leuchtend, durchsichtig wie von einem Kammerorchester gespielt. Man erinnere sich z. B. an die hohen Streicher auf der Farbskala eines seidig timbrierten, verhaltenen Glanzes bis zu schneidender Härte (bei Bartók). Jede Nuancierung, die der Dirigent andeutet oder in ausschwingender, leidenschaftlicher Gebärde fordert, wird realisiert. Ein in allen Stimmen großartiges Ensemble, wach in jeder Sekunde und angespannt bis in das stürmische Bartók-Finale. Erschütternd der Elegia - Mittelsatz, verhaltene Klage, die tief anrührt, und mit reißend die tänzerische Vehemenz im Intermezzo, die mit den schlanken Blechbläser- und spitzen Holzbläserstimmen Erinnerungen an den frühen „Petrouschka" von Strawinsky heraufholt.
Bernd Müllmann
(„Hessisch-Niedersächsischer Anzeiger", Kassel, 17. 2. 1977)

Wie er das ihm auf den kleinsten Wink folgende und apart reagierende Orchester zur Leuchtkraft der sich immer mehr steigernden Tonmalerei dieser drei „Sinfonischen Skizzen" inspirierte, war typisch für Celibidaches klangliche Empfindsamkeit und Raffinesse des Abwägens der Instrumentalfarben. Im „Spiel der Wellen", im Wechsel von Ruhe und Bewegung der Rhythmen also, das Scherzohafte des Stücks so untergründig schwelend herauszukristallisieren, ein solches Kunststück macht Celibidache so leicht kein anderer Dirigent nach. Das Zittern und Flimmern der Wasseroberfläche so spielerisch leichthändig nachzuzeichnen und die vollen, kraftvollen Akkorde der Meeresbrandung so majestätisch zu entwickeln, das alles ist im Orchester nur von einem Klangregisseur zustande zu bringen, der, wie Celibidache, ein unerbittlicher Probenfanatiker ist.
In der mehr virtuos geschliffenen als spannungsgeladenen Wiedergabe von Bartóks „Konzert für Orchester", einem wahrhaft klassischen Werk unseres Jahrhunderts, erfüllte das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart die zahlreichen solistischen Aufgaben mit großartiger Präzision. Trotz des melancholischen Untertons - vor allem im vier ten Satz „Intermezzo" - gewinnen Witz und Parodie eine Bedeutung, wie sonst in keinem anderen Werk Bartóks. Wie drastisch - sarkastisch unterstrich der Dirigent das Zitat einer altbekannten, abgeklapperten Melodie Lehárs, die wie ein frecher Gassenhauer die gedämpfte Stimmung des „Intermezzo" durchbricht. Im „Spiel der Paare" vollbrachten die Holzbläser und Trompeten über den glitzernden Lichttupfen der Streicher und Harfen eine faszinierende Ensemblekunst.
Erich Limmert
(„Hannoversche Allgemeine Zeitung", 20. 2. 1977)

Das Wort Erfolg, geschmückt mit superlativischen Adjektiven, reicht nicht aus, um die Begeisterung zu beschreiben, die Sergiu Celibidache und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit ihrer Interpretation von Bruckners 8. Sinfonie entfachten. Blumen, unzählige Hervorrufe, lang anhaltende Ovationen für die führenden Musiker und einzeln herausgestellte Orchestergruppen - und immer wieder bewundernder, stürmischer Dank für den Dirigenten, der sich in dieser eineinhalbstündigen Bruckner-Deutung bis zur Erschöpfung verausgabt hatte.
Sergiu Celibidache, seit 1972 künstlerischer Leiter des Stuttgarter Rundfunkorchesters, beendet seine dortige Tätigkeit mit einer triumphalen Deutschlandtournee, die ihn am Wochenende auch in die Hamburger Musikhalle führte.
Dabei kannte man Celibidache als Bruckner-Dirigent hier noch gar nicht. Um so imponierender der Eindruck: eine Bruckner-Deutung von so ungeheurer Beredtsamkeit und Eindringlichkeit, dass man die Zeit, die Umwelt vergaß. Die Riesenblöcke dieser Sinfonie gewaltlos zu bändigen, dazu gehört schon ein Übermaß an visionärer Kraft. Das eben war das Faszinierende seiner .Darstellung: diese konzentrierte Ruhe und gestalterische Intensität des sonst zu exaltierten Ekstasen neigen den Dirigenten.
Vor allem die weiträumigen dynamischen Entwicklungen hielten die Zuhörer in dauernder Spannung, aber auch das Aufspüren ungewöhnlicher Klangfarben, wie zum Beispiel das geisterhaft verhauchende Streicherpianissimo, das frappierende Wiederanknüpfen zerrissener Melodiebögen und die phänomenalen Steigerungen zu prunkvollster Klangentfaltung bis zum jähen Absturz ins fast tonlose Nichts. Aber das sind nur wenige Details einer überwältigenden Wiedergabe, die den allmählich brucknerentwöhnten Hamburgern unvergeßlich bleiben wird.
Sabine Tomzig
(„Hamburger Abendblatt", 21. 2. 1977)

So selbstverständlich warmherzig, so familiär ist schon lange kein Dirigent mehr in der Philharmonie gefeiert worden, wie es jetzt Sergiu Celibidache und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart geschah. Unvergessen scheint die Zeit, in der Celibidache die Berliner Philharmoniker mit unvergleichlichem künstlerischem Elan durch die schwierigen Nachkriegsjahre geführt hatte.
Mehr als dreißig Jahre danach ist Sergiu Celibidaches gelegentlich auch vordergründige Verausgabung einer dirigentischen Gestik und einem Interpretationsstil gewichen, die durchaus einzigartig genannt zu werden verdienen. Wiederum einigermaßen quer zur typischen Tendenz heute, die Partituren mit einem Maximum an Glanz, mit großem Zug und einer hochpolierten Stabilität auszustatten, betont Celibidache eher die Brüchigkeit der musikalischen Landschaften. So setzte er in Bruckners Achter Sinfonie Fermaten oder verharrte in den bedeutungsschweren Zäsuren wie kaum ein Dirigent heute. Adagiocharaktere gewinnen unter seinen Händen etwas von ihrem Ursprung zurück, von der Mühsal des Singens überhaupt. Und selbst die wuchernden Brucknerschen Hymnen stoßen nie brutal zu ihren Apotheosen vor, sondern bleiben durch den Zusammenhang gebunden. Während in der Formdisposition eine Tendenz zur Ausspinnung des Details auffällt, überraschte der Klang des Stuttgarter Orchesters durch seine Vielfalt an instrumentalen Farben. Die Streicher brillieren nicht nur in seidigen Kantilenen, sondern vermögen abgedunkelt zu singen. Die Holzbläser produzieren auch verhauchten oder knirschend tristen Gesang. Celibidache verlangte diesem soliden und ausdrucksstarken Instrument Augenblicke des Verlöschens unter der leidenschaftlichen Anteilnahme ab, die durch ihre Intensität, durch ihren seelischen Realismus gelegentlich erschreckten. Es ist selten geworden, dass ein Dirigent die großen Partituren noch als Drama begreift und als Abenteurer akzeptiert, das einen Konzertabend lang zu bestehen ist. Sergiu Celibidache macht diesen Reproduktionskonflikt, die geistige Spannung und die existentielle Angst auch, die er erzeugt, zutiefst deutlich. Und das verwöhnte philharmonische Publikum lag ihm, der sich ans Werk verschwendet und dessen eigentümliche Synthese aus hohem Kunstverstand und scheinbarer seelischer Naivität so rar geworden ist, buchstäblich zu Füßen. Beifallsstürme, Bravorufe - das Podium war umlagert am Ende - für Celibidache und das Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester.
Wolfgang Bürde
(„Der Tagesspiegel", Berlin, 22. 2. 7977)

Naht in Frankreich das Ende des Purgatoriums von Anton Bruckner? Man könnte es glauben, wenn man hintereinander seine 8. Symphonie, am Dienstagabend im Théâtre des Champs Elysees mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter der Leitung von Sergiu Celibidache auf den Plakaten sieht und später die 2. Symphonie, ausgeführt vom Orchestre de Paris unter Carlo-Maria Giulini … Sergiu Celibidache hat mit seinen Zauberhänden die gewaltige musikalische Masse durchgearbeitet, bis sie zuweilen so leicht und durchsichtig er schien wie die feinste Spitze. Der berühmte rumänische Dirigent bot eine blendende Darstellung von Orchesterleitung an der Spitze seiner Musiker von Radio Stuttgart.
Dank der Proben (man weiß, dass er zahlreiche fordert, aber das Ergebnis ist auch verblüffend in seiner Wirkung) und dank der Willenskraft, die er auf sein Orchester überträgt, welches er auf seine Weise geformt hat, ist Celibidache eine erstaunlich klare und feinsinnige Auslegung der Sym phonie gelungen, die das Publikum im Théâtre des Champs Elysees verzaubert hat.
Welch ein Klangkörper, dieses Stuttgarter-Radio-Sinfonieorchester! Welche Blechinstrumente vor allem, welche Hornbläser! Seit langem hat man in Paris kein ausländisches Orchester mit solch einem Zusammenspiel, mit solch einer Einheitlichkeit des Stils gehört. Sergiu Celibidache dürfte einiges dazu beigetragen haben.
Pierre Julien
(„L'Aurore", Paris, 24. 2.1977)

Bereits beim Betreten des Pultes von einem Beifallssturm aus den Tiefen des überfüllten Theätre des Champs Elysees empfangen, musste Sergiu Celibidache - wieder in Paris nach der bedauerlichen Trennung vom Orchestre National vor zwei Jahren - am Ende des Konzerts mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, in dem er die 8. Symphonie von Bruckner dirigiert hatte, gut zehn Minuten lang die Begeisterungs- und Dankesrufe eines Publikums entgegennehmen, das einmal mehr zu begreifen schien, dass vor ihm ein in seiner Art unvergleichlicher Dirigent stand, gegen den die größten zeitgenössischen Namen des Taktstocks erschreckend verblassen.
Wenn man Celibidache zuhört, ist man leicht versucht, das Wort „Wunder" auszurufen. Und dennoch, trotz des gänzlich außergewöhnlichen Charakters seiner Darstellung, gibt es kein Wunder. Goethe hat gesagt: „Das Genie ist beständige Ge duld." „Beständige Geduld" bedeutet bei Celibidache zunächst Arbeit an der Partitur, die zu einer Tiefenkenntnis führt, nicht nur im allgemeinen Sinne, sondern auch in ihrer kleinsten, intimsten Einzelheit. Die Beteiligten wissen es: Nicht nur im Konzert dirigiert Celibidache auswendig - wie allerdings auch die große Mehrheit seiner Kollegen - , aber wie viele dieser Kollegen würden es wagen, ohne Partitur zu dirigieren, wenn sie nicht sicher wären, sich unter allen Umständen auf das Orchester verlassen zu können. Er leitet auch die zehn Proben, auf denen er grundsätzlich besteht, aus dem Gedächtnis, und das ist keine leere Eitelkeit.
Am gestrigen Abend hat ein verzaubertes Publikum die Wahrheit Bruckners entdeckt: Es ist die eines Schöpfers, der ständig an die Grenzen des Unberührbaren stößt. Und diese Zwiesprache mit dem Unsichtbaren überträgt sich bei Celibidache im Orchesterklang mit einer Leichtigkeit, einer Anmut und einer Durchsichtigkeit, die selbst bestehen bleiben, wenn der volle Blechsatz eine Dankeshymne anstimmt, auch wenn die Pauken von den Geheimnissen des Volkes im Jenseits erzählen. Der Solopauker des Stuttgarter Orchesters ist symbolisch für das ganze Ensemble — vorher ein korrektes und gewissenhaftes Orchester - ; von Celibidache zu einem unvergleichlichen Instrument geformt, das beim Spielen zu tanzen scheint, das von den Geigen bis zu den Posaunen - sogar im Fortissimo - die Instrumente streichelt. Dieser Pauker eben verzaubert das Fell der Pauken mit seinen Paukenschlegeln, die den Eindruck des Nicht-Berührens, des Darüberhinschwebens ver mitteln, mit Leichtigkeit und mit einer wunderbaren Eleganz. Diese Verwandlung eines Orchesters, die Celibidache sich vornimmt und die ihm stets gelingt, wenn er vor einem neuen Ensemble steht, ist kein „Wunder": sie ist nach seiner Identifizierung mit der Partitur der zweite ausschlaggebende Bestandteil seiner Arbeit.
Antoine Goléa
(„Carrefour", Paris, 3. 3. 1977)