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			Die letzten beiden Konzerte mit dem Radio-Sinfonieorchester
			
			Offiziell hat der Südfunk bis heute nichts verlauten lassen, aber im 
			Publikum hat es sich doch herumgesprochen: Sergiu Celibidache hat 
			seine Tätigkeit als künstlerischer Leiter des 
			Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart am Orte mit dem sechsten 
			Abonnementskonzert und dem Sonderkonzert am Vortage mit anderem 
			Programm beendet. Der Beifall nahm darum an beiden Abenden 
			ungewöhnliche Formen an, die Ovationen waren noch fülliger als 
			sonst, mochten gar nicht aufhören, Blumen wurden aufs Podium 
			heraufgereicht: Dank zweifellos nicht nur für diese Konzerte al 
			lein, sondern für die Jahre, in denen Celibidaches Erscheinen in der 
			Liederhalle Brennpunkte des musikalischen Lebens in Stuttgart 
			gewesen waren. Eine Tournee, die bis zum 22. Februar dauert und nach 
			Wuppertal, Leverkusen, Kassel, Braunschweig, Hannover, Hamburg, 
			Berlin und Paris führt (zumeist mit Bruckners Achter), wird die 
			Arbeit des Dirigenten mit dem Radio-Sinfonieorchester beschließen.
			
			Was gemeinsam erreicht worden ist, davon kündete in den letzten 
			Konzerten vor allem anderen vielleicht am deutlichsten Claude 
			Debussys Tongemälde „La Mer", welches Herzstück beider Programme 
			war. Celibidache hat das Stück nie zuvor mit diesem Orchester 
			gemacht. Gleichwohl wurde bis in die Feinabstimmung hinein Takt für 
			Takt, Instrument für Instrument, Gruppe für Gruppe ein Grad der 
			Schlüssigkeit erreicht, der es gestattete, die atmosphärischen 
			Naturvisionen in geradezu schlackenfreie Materie umzusetzen. 
			Celibidache bezieht die absolute Gegenposition etwa zu den 
			auftrumpfenden Heftigkeiten von Toscaninis Darlegung des Werkes. 
			Transparent gehaltene figurative Gespinste binden sich und lösen 
			sich, spielen in gebrochenen Farben und sanft aufwellender Dynamik 
			hin und her, lockern sich rhythmisch und fangen sich wieder in 
			reizvollen Pointierungen. Das Klima der Komposition ist eingefangen, 
			keine Abschilderung von Naturvorgängen versucht, wobei für den Hörer 
			alles so klar musiziert und gestaltet wird, dass dem Ohr über allem 
			Stimmungshaften nie die Struktur verlorengeht.
			
			Um „La Mer" waren in den beiden Konzerten gruppiert: Bartóks Konzert 
			für Orchester, in dem die rhythmischen wie die klanglichen 
			Komponenten genau gegeneinander aufgewogen waren, keine auf Kosten 
			der anderen überbetont wurde. Verdis Ouvertüre zur „Macht des 
			Schicksals", vom effektvollen Reißer zu einer stimmungsreichen 
			sinfonischen Dichtung veredelt. Die Haydn-Variationen von Brahms, 
			Episode für Episode filigranhaft ausgearbeitet; Miniaturen, die in 
			ihrem Formbewusstsein und in ihrer Formelhaftigkeit niemals den 
			Bezug zur Strenge des Choralthemas verloren und in der Schluß-Passacaglia 
			keineswegs in die Nähe einer sich selbst feiern den Eurovisionsmusik 
			geführt wurden.
			
			Schließlich von Brahms die Erste, die manchen latenten, bisweilen 
			sicher berechtigten Zweifel an den Brahms-Interpretationen 
			Celibidaches widerlegte, ihn als Brahms-Dirigenten rehabilitierte 
			(falls das nötig gewesen sein sollte) und legitimierte: Großbögiger 
			Spannungsatem und gleichwohl eine Ziselierung ins Detail, die Bülows 
			Bonmot von Beethovens „Zehnter" ad absurdum führt und klarmacht, 
			dass neben Rhythmischem, Harmonischem und Melodischem auch die 
			Klangfarbe bei Brahms durchaus einen bestimmenden Stellenwert 
			gewinnt. Nichts tunkig angerührt; Mittelstimmen und Nebenstimmen 
			stets profiliert; die Dynamik hin- und herpendelnd. Über 
			Einzelheiten könnte man lange schwärmen: wie die Pizzicato-Passage 
			des vierten Satzes in ein geisterhaftes Pianissimo weggetaucht wird 
			und in einem plötzlichen Accelerando am Schluss gespenstisch 
			hochschnellt. Oder wie der Hornruf aus weiter Ferne zärtlich 
			heraufklingt und der Posaunen-Choral ohne alle Direktheit als ein 
			gedämpftes Echo in den Satz gebettet wird.
			
			Genug davon. Die vom Veranstalter erstaunlich beiläufig über die 
			Bühne gebrachte Verabschiedung Celibidaches hat stattgefunden. Es 
			hat wenig Sinn, einen Schuldigen dafür zu suchen, dass sich die 
			Verbindung zwischen dem Dirigenten und dem SDR, die manche 
			Auseinandersetzung in der Sache überdauert hatte, am Ende doch 
			aufgelöst hat. Die Wünsche Celibidaches und die Interessen des 
			Rundfunks haben sich manchmal offensichtlich nur schwer auf einen 
			Nenner bringen lassen - doch vielleicht hat man den Mann, der es den 
			anderen wahrlich nie leicht machte, doch zu leicht ziehen lassen. In 
			vieler Hinsicht ist, man Celibidache freilich weit entgegengekommen. 
			Er hat, was er aus künstlerischen, subjektiv wohlerwogenen Gründen 
			ablehnt, keine „Produktionen" machen müssen, das heißt, keine 
			Einspielungen bestimmter Werke im Studio, die dann gesendet, aber 
			nicht öffentlich aufgeführt wer den.
			
			Er hat sein Programmspektrum enger halten können, als man das von 
			einem Chefdirigenten erwartet. Zwanzig Komponisten-Namen nur 
			erscheinen in der Statistik seiner Konzerte mit dem 
			Radio-Sinfonieorchester. Ravel, Brahms und Bruckner stehen dabei mit 
			weitem Abstand an der Spitze. Beethoven, Tschaikowsky und Hindemith 
			hat er häufig, Mahler oder Schönberg beispielsweise nie dirigiert. 
			Wie schwierig es gewesen ist, mit ihm Programme zu planen, hat auch 
			der Konzert-Abonnement erfahren. Nicht eine der für diese Saison 
			angekündigten Werkfolgen ist schließlich voll verwirklicht worden. 
			Um nur bei diesem sechsten Konzert zu bleiben: Für Berg und Schubert 
			kam eine Verdi-Ouvertüre ins Spiel, die nun wirklich in der 
			repräsentativen Reihe eines Rundfunkorchesters kaum etwas zu suchen 
			hat; der „Feuervogel" wurde durch eine Brahms-Sinfonie ersetzt.
			
			Andrerseits: die Repertoire-Lücken, die die Tätigkeit Celibidaches 
			aufriss, konnten durch Gastdirigenten stets geschlossen werden, 
			besonders durch die seit 1970 währende ständige Zusammenarbeit mit 
			Michael Gielen, der sich gerade Mahlers, der Wiener Schule und der 
			Moderne intensiv annahm. Celibidache mag nur relativ weniges 
			dirigiert haben, doch wie er es dirigierte, das zählt ja zunächst 
			einmal. Als Celibidaches Berufung zum Süddeutschen Rundfunk im 
			Februar 1972 bekanntgegeben wurde, wurde in dieser Zeitung die 
			Erwartung ausgesprochen, seine unerbittliche Probenarbeit werde ganz 
			gewiss zu einer weiteren Festigung, sicher zur Erhöhung der 
			spielerischen Fähigkeiten dieses Orchesters führen. Diese Hoffnung 
			hat sich nicht nur erfüllt, sie ist vielmehr in einem damals gar 
			nicht zu ahnenden Aus maß übertroffen worden.
			
			Das Südfunk-Sinfonieorchester, wie es damals hieß, hat seither nicht 
			nur den Namen gewechselt, sondern einen ganz anderen Rang bezogen. 
			Seine exzellente Spiel- und Klangkultur braucht hier nicht noch 
			einmal gerühmt zu werden. Es genügt vielleicht, noch einmal an die 
			Bemerkung einer führenden deutschen Zeitung zu erinnern, die 
			anlässlich einer Tournee befand, die Radio-Sinfoniker aus Stuttgart 
			seien nach den Berliner Philharmonikern vielleicht das beste 
			deutsche Orchester heute.
			
			Doch nicht allein die Orchesterleistungen, auch Celibidaches 
			Interpretationen, die die konventionellen Pfade zumeist verließen, 
			haben sich den ständigen Besuchern unvergesslich eingeprägt, haben 
			sie geradezu zu einem neuen Hören erzogen. Nicht alle haben 
			natürlich für alles immer die gleiche Begeisterung empfunden, doch 
			eines ist stets gewiss gewesen: Celibidache hat sich nie auf 
			irgendwelche goldenen Interpretationsregeln verlassen, auf die 
			gedankenstumpfe Bequemlichkeit, dies müsse man so machen, weil es 
			immer so gewesen sei. Musikalischer Intellekt hat sich bei ihm mit 
			musikalischer Unschuld verbunden: Seine Konzerte waren 
			Entdeckungsreisen für ihn, seine Musiker und seine Zuhörer.
			
			Per saldo gewinnt keiner, verlieren alle mit dem Ende der 
			Stuttgarter Tätigkeit des Vierundsechzigjährigen. Der Südfunk, weil 
			er auf eine Attraktion verzichten muss, die ihn durch Übertragungen 
			und Gastspielreisen selbst da noch bekanntgemacht hat, wo man von 
			der Existenz dieses Senders keine Ahnung hatte. Das 
			Radio-Sinfonieorchester, das einen Orchestererzieher verliert, wie 
			er ihm so bald kaum mehr beschieden sein wird. Das Publikum, weil es 
			von nun an jener Konzertabende entraten muss, die zu den 
			unumstrittenen Höhepunkten jeder Saison gehörten. Das musikalische 
			Stuttgart insgesamt schließlich, das nach dem Weggang von Carlos 
			Kleiber aus der Staatsoper vor zwei Jahren nun abermals einen 
			Aderlass verzeichnet, der kaum wett gemacht werden kann. Gewiss, 
			Silvio Varviso ist vorerst fest an Stuttgart gebunden; die ständige 
			Verbindung mit Vaclav Neumann dort, mit Michael Gielen hier bleibt 
			erhalten. Doch das Spektrum ist abermals schmaler geworden; 
			Stuttgart ist ärmer, künstlerisch unwirtlicher geworden.
			
			Wie wird es weitergehen? Celibidache wird im kommenden Jahre, neben 
			drei Konzerten in Hamburg, zum Ruhme des Norddeutschen und nicht 
			mehr des Süddeutschen Rundfunks auf Tournee gehen. In Stuttgart 
			werden sich Gastdirigenten unterschiedlichen Gesichts und Gewichts 
			am Pult abwechseln. Ein neuer Chefdirigent wird gesucht - kann er 
			überhaupt gefunden werden, wenn man die Ansprüche so hoch schraubt, 
			wie es dem jetzigen Standard des Orchesters entspricht? Wie schwer 
			führende Dirigenten für eine solche Arbeit zu gewinnen sind, zeigt 
			sich am Beispiel der Münchner Philharmoniker, die nun bald ein Jahr 
			auf der Suche nach einem Nachfolger für Rudolf Kempe sind.
			
			Eines bleibt in jedem Falle zu wünschen: Dass sich über alle 
			Verhärtungen hinweg, die sich auf beiden Seiten eingestellt haben 
			mögen, doch ein Weg findet, der für die weitere Zukunft wenigstens 
			eine lose, gelegentliche Verbindung zwischen Celibidache und dem 
			Radio-Sinfonieorchester neu knüpft. Das Publikum, daran haben die 
			Reaktionen nach den letzten beiden Konzer ten keinen Zweifel 
			gelassen, wartet darauf. 
			
			Peter Dannenberg Stuttgarter Zeitung 1977