Der Ehrenbürger
			
			Der Maestro wurde Ehrenbürger
			München ehrte Celibidache
			
			Ein Artikel aus "Der 
			Donauschwabe"
			von Mark Jahr vom 1. November 1992
Es gab und gibt nicht viele 
			Künstler, die mit dem nichtakademischen und eben darum so 
			respektvollen Titel "Maestro" im Bewusstsein der Öffentlichkeit 
			leben. Es gibt aber noch weniger, die im gleichen Atemzug auch mit 
			ihrem Kosenamen in den Berichten und Kritiken der Medien erscheinen. 
			So wird gar oft innerhalb weniger Zeilen aus dem unnahbaren, fern 
			auf hohem Podium stehenden Maestro Sergiu Celibidache der so 
			menschlich fühlende, seine Ergriffenheit preisgebende Celi, der, 
			neben dem Konzertmeister stehend, die Beifallsstürme zuerst für sein 
			Orchester und erst dann für sich, dankend entgegennimmt.
			
			Zum Coda-Auftakt eines bewegten Jahrhunderts feiert die Musikwelt 
			einen Künstler, dessen Auffassung von Kreation, Interpretation und 
			Musikvermarktung nicht nur einzigartig, sondern bedauerlicherweise 
			auch schwer verständlich für bereits streßsüchtige Leistungsmenschen 
			ist. Während wir rasend die Zeitenwenden überbrücken und 
			geschichtliche Ereignisse zum Alltagsgeschäft herabstufen, zieht 
			Sergiu Celibidache die Zügel straff an und gibt seinen Münchner 
			Philharmonikern ein getragenes, auf Geist und Gemüt besänftigend 
			wirkendes Tempo vor. Innere Einkehr und Ruhe braucht der Mensch 
			unserer hektischen Zeit. Er findet sie in Celis Musik, in seiner 
			Art, ein Orchester zu führen. Dabei muss dem Celibidache-Gegner - 
			wie jeder Star hat auch er seine Widersacher - zugestanden werden, 
			dass dieser heute so ruhig und weise wirkende Mann mit schneeweißer 
			Mähne sich im umgekehrten Verhältnis zum Accelerando-Tempo unseres 
			Zeitgeistes entwickelt hat. Seine einst gefürchtete Vitalität und 
			Spontaneität veranlasste den Solobratscher der Münchner 
			Philharmoniker zu der Aussage: "Manchmal ist er ja 
			erstaunlicherweise in der Lage, lauter zu brüllen als das ganze 
			Orchester im Fortissimo." Was mag das für ein Mensch sein, der einem 
			jungen, anerkennungsbedürftigen Hornisten schonungslos klar macht, 
			dass sein Solo eher eine "gepanzerte geflügelte Kuh" suggeriere, als 
			eine zu veranschaulichende "diebische Elster" (Rossini), der aber 
			auch vor bereits voll konzentriertem Orchester den Taktstock wieder 
			senkt und seine Bewunderung für das hervorragende Musizieren 
			blutjunger Musiker der Orchesterakademie Schleswig-Holstein mit 
			einer zum Herzen führenden Handbewegung bekundet? Es ist bestimmt 
			ein zweckloses Unterfangen nach den Widersprüchen im Inneren dieses 
			Mannes, der elf (11) Sprachen spricht, alle 130 Musiker der Münchner 
			Philharmoniker beim Namen nennt, bis auf Begleitungen alles 
			auswendig dirigiert, und den Zen-Buddhismus als wichtigen Baustein 
			seines Selbstbewußtseins betrachtet, zu suchen. Sie sind aber 
			allemal ein Anregungsfaktor, um auf die Vergangenheit des oft als 
			Guru bezeichneten Maestros Sergiu Celibidache neugierig zu sein.
			
			Wann wurde Sergiu Celibidache geboren? Das Rätselraten beginnt schon 
			mit dem genauen Geburtstag des Maestros. Mein Gott, der Mann lebt ja 
			noch, also wird er es ja wissen. Die Musikkritiker und Lexikographen 
			sind sich allerdings uneinig. Im Musikführer "Musik des 20. 
			Jahrhunderts", Kiesel Verlag, 1985, wird als Celibidaches Geburtstag 
			der 28. Juni 1912 angegeben. Das gleiche Datum ist in Ausgaben des 
			DONAU KURIER (vom 15./16.2.'92, 2.6.'92 und 29.6.'92) und der 
			SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (vom 27./28.6.'92 und 29.6.'92) zu entnehmen 
			oder abzuleiten, während der DONAU KURIER vom 2. April 1992 den 11. 
			Juli 1912 als Tag von Celibidaches Geburt angibt. Der gleichen 
			Meinung ist auch der Schriftsteller Klaus Weiler in einem im 
			Jahrbuch der Münchner Philharmoniker (1988/89) veröffentlichten 
			Essay über Sergiu Celibidache. Das rumänische Wochenblatt EXPRES 
			MAGAZIN gibt wiederum den 28. Juni als Celis Geburtstag an. Auf 
			diesen Tag waren auch die Festlichkeiten in München zum 80. 
			Geburtstag des Maestros angelegt. Unbestritten bleibt der 
			Geburtsort: die rumänische Stadt Roman. Celibidache lebte und lernte 
			die ersten 24 Jahre seines Lebens in Jassy, Bukarest und Paris.
			
			Als er 1936 nach Berlin kam, setzte er seine Mathematik-, 
			Philosophie- und Musikstudien an der Musikhochschule und an der 
			Friedrich - Wilhelms-Universität fort. Am 29. August 1945 dirigierte 
			Celibidache zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker. Wilhelm 
			Furtwängler und Herbert von Karajan hatten Berlin vor Kriegsende 
			verlassen und warteten im Ausland auf ihre Entnazifizierung. 
			Celibidache wurde als ein vom Himmel gesandter Retter in der 
			zerstörten Stadt gefeiert. Er war der erste Künstler des Landes, der 
			eine Lizenz von den Alliierten für alle vier Besatzungszonen 
			bekommen hat. Als Musiker war Celibidache die unumstrittene und 
			überschwänglich gefeierte Nr. 1 in Berlin. Seine menschliche Seite 
			betrachtend, muss man ihm heute noch seinen persönlichen Einsatz für 
			die Entnazifizierung Furtwänglers hoch anrechnen. Im Winter 1946/47 
			entwarfen Furtwängler und Celibidache gemeinsam eine 
			Entlastungsstrategie, die schließlich zum Erfolg führte und den 
			Berliner Philharmonikern ihren langjährigen Chefdirigenten 
			Furtwängler wieder zurückbrachte. Bis 1952 war Celibidache der 
			Leiter des Orchesters und Furtwängler stets umjubelter Gastdirigent 
			auf Konzertreisen der Philharmoniker. Dann tauschte man die Rollen. 
			Furtwängler wurde zum ständigen Dirigenten auf Lebenszeit gewählt 
			und Celibidache blieb durch mehrere Gastkonzerte pro Jahr dem 
			Orchester verbunden. Am 30. November 1954 starb Wilhelm Furtwängler, 
			aber nicht Sergiu Celibidache wurde, wie es der Logik der eben 
			verstrichenen neun Nachkriegsjahre entsprochen hätte, zum Nachfolger 
			erkoren, sondern Herbert von Karajan. Und Celibidache ging, um erst 
			nach fast 38 Jahren am 31. März 1992 mit Anton Bruckners siebter 
			Symphonie ans Pult der Berliner Philharmoniker zurückzukehren und 
			mit dem Benefizkonzert zugunsten rumänischer Kinderheime einen 
			fantastischen Triumph zu feiern. Wie ein Komet war er in der 
			Berliner Musikszene aufgetaucht und wieder verschwunden. 
			Celibidaches Wirkungskreis wurde nach Berlin so groß, dass Karajans 
			Schatten ihn eigentlich nie erreichen konnte. Von Skandinavien, über 
			Italien, Frankreich, Deutschland, England, Südamerika bis Israel war 
			Celi stets ein gefeierter Star.
			
			Seit 1979 ist Celibidache Generalmusikdirektor der Stadt München und 
			Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Seine Weltanschauung, 
			Musikauffassung und sein Arbeitsstil haben seither dieses Orchester 
			geprägt und zu Weltruhm geführt. "Der Ton ist noch keine Musik, er 
			kann zu Musik werden . ... Eine Probe ist eine Summe von unzähligen 
			Nein. Es gibt Millionen von Nein und nur ein einziges Ja. ... Musik 
			dauert nicht." Diese Worte Celibidaches sagen viel über den Sinn der 
			intensiven Proben mit seinem Orchester aus. Seine 
			Bruckner-Aufführungen werden mittlerweile rund um den Globus als 
			einmalige Musikerlebnisse gefeiert. Man muss aber live dabei sein, 
			denn, wenn Musik nicht dauert, ist sie für Celi auch nicht 
			konservierbar, also auf Tonträger nicht verbannbar. Es wird wohl 
			auch in Zukunft keine Studioaufnahmen unter Celibidaches Stabführung 
			geben. Wenn er dirigiert, schafft er nur "Bedingungen, unter denen 
			Musik entstehen kann". Und die sind einzigartig. Das gleiche Werk in 
			einem anderen Konzertsaal, in einer anderen Zeit kann nicht dasselbe 
			Hörerlebnis vermitteln. Es ermöglicht ein völlig anderes 
			Musikempfinden. "Die Entsprechung zwischen Klang und innerem Leben 
			des Menschen macht Musik möglich." Weder Klang noch inneres Leben 
			sind dauerhaft. Sie müssen immer von neuem zusammenfinden. 
			Celibidache will zurück zur Natur. Er kämpft mit zwar weiser 
			Zeitökonomie, aber trotzdem jugendlich wirkender Kraft für die 
			Rettung der wahren Musik vor dem Klangbetrug der Studioelektronik. 
			Wer wahre Musik liebt, kann dem Maestro gar nicht genug 
			Durchhaltevermögen für die Zukunft wünschen.
			
			"Hinaus und fort nach immer neuen Siegen, / Solang der Jugend 
			Feuerpulse fliegen!" Diese Verse Nikolaus Lenaus stehen als 
			Programmvorspruch auf der Partitur der Tondichtung für großes 
			Orchester "Don Juan" von Richard Strauss. Celibidache nahm dieses 
			Werk in der Konzertsaison 1988/89 mit nach Amerika, auf eben den 
			Kontinent, auf dem Lenaus Versuch scheiterte, materielle Sicherheit 
			für sein geistiges Schaffen zu finden. In der CHICAGO SUN TIMES war 
			zu einer Don-Juan-Aufführung zu lesen: "Dann war da deutsche Musik, 
			Strauss' vielgespielter 'Don Juan' in einer Darstellung, die die 
			meisten anderen Wiedergaben dieser Partitur schnell, glatt, 
			unflexibel und ohne Sinnlichkeit erscheinen lässt. Das war der wahre 
			Don Juan des Gedichts von Nikolaus Lenau."
			
			Niemand hat so eindrucksvoll wie der Maestro aus Osteuropa deutsche 
			Musik in allen Konzertmetropolen dieser Erde gestaltet. Was könnte 
			uns über die unsichtbaren Wellenlängen von Geist und Gemüt mit 
			diesem Mann verbinden? Vielleicht sind es die gleichen 
			Schicksalsempfindungen, mit denen Menschen leben, wenn sie ihre 
			Heimat verlassen haben, um nie oder nur als Gast wiederzukehren. In 
			einer astrologischen Durchleuchtung der Persönlichkeit des Maestros 
			ist auch Folgendes festgehalten: "Gleichzeitig ist die Position von 
			drei Planeten und der Sonne in IX der deutliche Hinweis, dass dieser 
			Lebenserfolg für Celibidache nur im Ausland (Bereich IX) möglich 
			war."
			Ein großer Dirigent und Pädagoge - allerdings nicht im 
			traditionellen Sinn von Erziehung, sondern als Kunstvermittler mit 
			eigenen originellen Methoden - wurde 80 Jahre alt. Von seiner 
			Persönlichkeit geht aber nach wie vor eine ungebrochene Faszination 
			aus. Bernd Maltry, Sohn eines Banater Schwaben, erfolgreicher 
			Dirigent und Dozent, der Celibidaches Dirigentenkurse besucht hat, 
			sagte mir hinter verschmitztem und deutbarem Lächeln: "Ich bin als 
			Celibidaches Schüler immer voll inspiriert nach Hause gegangen." 
			Celi wird auch weiterhin unsere Phantasie anregen. Darum sei im 
			Reigen der vielsprachigen Glückwünsche auch unsererseits ein 
			herzliches "La mulţi ani!" ausgesprochen.
			
			Sergiu Celibidache wurde anlässlich seines Geburtstages zum 
			Ehrenbürger der Stadt München ernannt und bekam das "Große 
			Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik 
			Deutschland" verliehen.
			
