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			Celibidache dirigiert Verdis "Messa da Requiem" in München
			
			Der Vorwurf „Oper im 
			geistlichen Ge wand" war in Deutschland seit Bülows abschätzigem 
			Urteil gang und gäbe, wenn von Verdis monumentaler „Messa da 
			Requiem" die Rede war. Aber schon Brahms hatte dagegen Einspruch 
			erhoben: „Nur ein Genie konnte ein solches Werk schreiben." Verdi, 
			der wahrheitsliebende Agnostiker, wusste sehr wohl um die 
			jenseitigen Dingen des Menschen, um Trauer und Hoffnung, und er 
			hatte die großen geistlichen Chorwerke gewiss heiß studiert, die er 
			in der Bibliothek von Sant' Agata aufbewahrte: die h-Moll-Messe, 
			Mozarts Requiem, die Missa solemnis Beethovens, das Brahms-Requiem, 
			die wichtigsten Händel-Oratorien...
			
			Das Requiem, in der langen Opernpause zwischen „Aida" und dem 
			Spätwerk „Otello" und „Falstaff" komponiert (1873 / 74), bewirkt 
			gerade nicht Veroperung der lateinischen Requiem-Vorgänge, sondern 
			deren glühende Dramatisierung, zugleich Verinnerlichung - 
			geschrieben aus sehr persönlichem Grund: weil Verdi vom Tod des von 
			ihm verehrten Dichters und Patrioten Alessandro Manzoni tief bewegt 
			war.
			
			Die Herstellung einer bewegenden menschlichen Dimension dieser 
			Partitur war wohl Celibidaches Anliegen, als er jetzt Verdis 
			Totenmesse zum ersten Mal mit den Münchner Philharmonikern und dem 
			Philharmonischen Chor aufführte - im Gedächtniskonzert des 
			Orchesters für den langjährigen Chefdirigenten Fritz Rieger (an 
			dessen Schaffen und Menschlichkeit Riegers Freund, der 
			Ministerpräsiden Nordrhein-Westfalens Johannes Rau, vor Beginn in 
			guten, weil ehrlichen Worten erinnerte).
			
			„Requiem aeternam dona eis, Domine", schon der fahle Beginn wies auf 
			die Qualität der ganzen Aufführung hin. Gelassenheit und Ruhe des 
			Musizierens bedeuteten für den Hörer rund einhundert Minuten lang 
			musikalische Plastizität und beglückende, auch beklemmende Nähe des 
			Subjekts, das hier inständig betet. Diesem Gestaltungsziel diente 
			auch die Entfaltung eines weiten musikalischen Raums, der sich in 
			Celibidaches sorgfältiger Einstudierung des Noten- und Worttextes 
			öffnen konnte - durch eine im Leisen wie im Lauten alle Werte 
			ausschöpfende Dynamisierung. Und durch die geradezu verblüffende 
			Deutlichkeit musikalischer Textpräsentation in den Chorstimmen. 
			Vergeistigung statt Veroperung war auf Anhieb hergestellt.
			
			Als dann die Chor-Orchester-Gewalten der Schreckensvision im „Dies 
			irae" und
			die apokalyptischen Verkündigungsfanfaren des Jüngsten Gerichts vor 
			„Tuba mirum" aus mehreren Richtungen in der Philharmonie losbrachen, 
			nicht in brutal und rasend eindreschender Manier, sondern in Klang 
			und Rhythmus souverän durchgezeichnet, da wurde klar, dass 
			Furiosität, Spannung, Hitze aus dem musikalischen Text selbst 
			hervorgehen müssen, sollen sie den Hörer nicht bloß erschlagen. 
			Stimmenvielfalt und Homogenität im Orchester, in dem ein italienisch 
			helles, eher weiches Klangbild vorherrschte, Reichtum in der 
			Artikulation der Chorsätze mit dem Ergebnis hintergründiger vokaler 
			Todesbilder (hervorragend einstudiert durch den neuen Chorleiter 
			Michael Gläser), dies alles führte zu einer erinnerungswürdigen 
			Wiedergabe.
			
			Über welche „Stellen" soll man herausgehoben sprechen? Die 
			lyrisch-melodische Emphase des „Lacrymosa"-Gesangs; das durch die 
			musikalischen Pausen bedrohlich aufgerissene, betont langsam, wie 
			aus dem Nichts gestaltete Stammeln im Todeserschrecken des Basses 
			(„Mors stupebit"); die erhabene Wirkung der mit großem Bedacht 
			aufgetürmten „Rex tremendae"-Chormassen und deren angst volles 
			Erbleichen im Hell-Dunkel-Echo-gemurmel; die Transparenz und 
			Leichtigkeit der „Sanctus"-, der „Libera me"-Fuge - die Aufzählung 
			lässt sich fortführen.
			
			Natürlich ist das Solistenquartett, dem Verdi durch unbegleitete 
			Einsätze und Passagen ungewöhnlich Schweres abverlangt, von 
			Bedeutung fürs Gelingen. Die Solo-Stimmen tragen weitgehend den 
			Prozess der Vermenschlichung überpersönlicher religiöser Wahrheiten.
			
			Nun bildeten die vier Sänger, die zur Verfügung standen, gewiss kein 
			Quartett der „erlesenen" Sonderklasse, sondern eher eines der 
			Musikalität und Standfestigkeit. Aber Nervosität (die mit den 
			ungewohnt langsamen Tempi Celibidaches und dementsprechenden 
			Phrasierungsproblemen zu tun haben mochte), auch etliche 
			Intonations- und Technikschwächen konnten nicht verhindern, dass der 
			vokale Tonfall der Solisten doch immer von Einfachheit und 
			menschlicher Anteilnahme geprägt war. Für die er krankte Margaret 
			Price sang Elena Filipowa die Sopranpartie mit schwebender 
			Kantilene, Reinhild Runkels Altstimme drückte Festigkeit und 
			Gewissheit aus, Peter Dvorskys Tenor hatte neben Mühe auch Glück im 
			Pianobereich und Kurt Rydls Baß gab ein Fundament von rauher 
			Trotzigkeit. Am Ende der Aufführung eine lange Weile des 
			Nach-Horchens, des Schweigens, dann sehr starker Beifall.
			
			Wolfgang Schreiber (SZ 1993)